Goethe als große Collage

„Sunays Erwachen“: Der „west-östliche Divan“ trifft auf Gegenwart und Multimedia

von Martin Hagemeyer

Goethe als große Collage
 
Der „west-östliche Divan“ trifft in Wuppertal
auf Gegenwart und Multimedia
 
Sunays Erwachen oder:
Der neue West-östliche Divan. Ein Multi-Media-Stück.
 

Buch und Regie: Heiner Bontrup und Melanie Mägdefrau - Choreographie: Chrystel Guillebeaud - Videobühnenbild: Frank N. - Musikalische Leitung: Charles Petersohn und Heiner Bontrup - Choreografische Beratung: Guity Doroudi
Besetzung: Chrystel Guillebeaud: Sunay – Olaf Reitz: J.W. v. Goethe – Terrence Johnson: Tayo – Michael Hablitzel: Cellist – Charles Petersohn: Keyboardspieler – Claudia Gahrke: Sunay (Stimme)
 
Großer Titel, große Mittel: „Der neue west-östliche Divan“ heißt das Programm „Sunays Erwachen“ im Untertitel, das nach der Premiere im August nun erneut im Theater am Engelsgarten zu sehen war. Goethes Zyklus nimmt das „Theater Anderwelten“ um Heiner Bontrup als Basis für eine Collage mit Tanz und Sprache, Bild und Musik.
 
Der Klassiker um die Begegnung von Orient und Okzident, er scheint der Stoff der Stunde: Goethe wollte damit „Westen und Osten, das Vergangene und Gegenwärtige, das Persische und Deutsche“ verknüpfen, und Fragen um derlei Kontakte stellen sich dieser Tage ja unüberhörbar. Bontrup und Mitautorin Melanie Mägdefrau adaptieren das zum einen thematisch, zum anderen wird das Werk zum Ausgangspunkt der Handlung: Sunay, nach Deutschland gekommene Iranerin, wendet sich mit Briefen an den Dichter, sie schaut mit ihrem Hintergrund auf seine Verse und ordnet sie ins Heute ein. Mit der Stimme von Claudia Gahrke erklingen ihre Gedanken zu Goethes Worten und Mahnungen: „Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.“
 
Freilich: Ihre Anrede „Lieber Wolfgang“ klingt nach viel mehr Vertrautheit, als es das Bühnengeschehen einlöst. Die Tänzerin Chrystel Guillebeaud verkörpert Sunay, ist ohne Unterbrechung präsent und im Fokus der Aufmerksamkeit. Unbestritten der Anspruch, dabei auf all das andere zu reagieren – das allerdings ist dafür vielleicht fast zu gewaltig: Von oben erschallt das Wort des Dichterfürsten; Schauspieler Olaf Reitz thront dazu auf einem hochsitzartigen Podest. Von hinten per Video ähnlich Titanisches – der Turmbau zu Babel, die Skyline von New York. Monumente, leinwandfüllend.
Den akustischen Teil des Hintergrunds liefert Charles Petersohn, wie Guillebeaud und Reitz fester Teil der „Anderwelten“. Der musikalische Leiter des Abends steht am Rand der Bühne und spielt am Keyboard  die Klänge und Melodien ein, auf die das Spiel der Tänzerin noch am direktesten reagiert. Guillebeaud war Mitglied des Wuppertaler Tanztheaters und greift dessen Ästhetik erkennbar auf. Fließend sind Guillebeauds Bewegungen und wirken zugleich impulsiv; orientalische Anspielungen kommen hinzu.
An Pina Bausch erinnert heute indes auch die Schwierigkeit, den Tanz einzuordnen – der Bezug zum Geschehen ringsherum erschließt sich allenfalls mittelbar. Vielleicht so mag man es sehen: Zu gewaltig sind die Verwerfungen der Zeit für die Zugewanderte, sind Terror und Fremdenhaß, als dass ihr der Umgang gleich gelänge. Dazu manche Widrigkeit im Alltag, wo die Akademikerin (sie hat Germanistik studiert) sich im Callcenter verdingen muß. Hier Bausch, da Derwisch: Sunay kämpft und muß sich noch finden.
 
Alles läuft zu auf die Botschaft bei Goethe, den sie zitiert: „Scherze nicht! Nichts von Verarmen! / Macht uns nicht die Liebe reich? / Halt ich dich in meinen Armen, / Jedem Glück ist meines gleich.“ Es steht im „West-östlichen Divan“ im „Buch Suleika“, im Versdialog Suleikas mit ihrem Geliebten Hatem. Sunay selbst hat sich da allerdings nicht etwa in einen Deutschen verliebt, sondern in einen Afroamerikaner in New York, der wie sie noch auf der Suche war nach Identität. Klarer als vorher wird so doch noch der Tanz: Anrührend geraten Guillebeaud und Terrence Johnson in die gemeinsame Bewegung – und haben sich ganz fraglos gefunden. So sprengt die Variante des Abends zum „Divan“ nach manch Gigantischem auch den „Orient/Okzident“-Rahmen und endet denkbar universell: Liebe verbindet.