Das Theaterwunder von Weimar oder Stralsund

Ein Beitrag zur deutschen Theaterkrise

von Eugen Egner

Eugen Egner - Foto © Frank Becker

Das Theaterwunder von Weimar oder Stralsund


Wir erinnern uns: noch vor einem Jahr steckte das Wei­marer Sprechtheater tief in der Krise. Es kann aber auch das Thalia-Theater zu Stralsund gewesen sein, so genau weiß man das nie. Jedenfalls wurden wahllos Rettungs­konzepte ausprobiert, von denen keines tauglich war: Neuerrichtung des Schauspielhauses an anderer, gehei­mer Stelle, Verschärfung der Kontrollen im Kassenbereich, Abschaffung der Toiletten. Der Bühnenbetrieb war ver­quollen, das Programm verwest, der Schauspieldirektor verschwunden. In letzter Sekunde, als schon eine Wurst­fabrik aus dem Theater gemacht werden sollte, wurde ein neuer Intendant verpflichtet. Wie durch ein Wunder war es kein Geringerer als der berüchtigte Helmut Bratwasser aus Berlin, der in Fachkreisen als »sechsmotorige Wild­sau« galt. Im Privatfernsehen war er wiederholt dafür ein­getreten, alles müsse »irgendwie anders« gemacht werden.

Außer seinem zweiundvierzigköpfigen Harem und etwa siebzehn Tonnen Hausmüll brachte Bratwasser ein er­staunliches Konzept zur Reformierung und Sanierung des Bühnenbetriebs mit. Als unmittelbares Vorbild nannte er die große Gemäldereform nach Prof. Schlichtegroll, die dieser persönlich vom Klavier aus geleitet hatte, bis das Geld alle gewesen war. In Bratwassers Fall war das Geld bereits alle, bevor er sich ans Klavier setzen konnte. Genaugenommen reichte es nicht einmal mehr für ein Kla­vier. Der Presse gegenüber erklärte er, die Leute interes­sierten sich sowieso nicht für das Sprechtheater, welches in den meisten Städten auch unerträglich blöd sei. Die Leute interessierten sich seiner Meinung nach ausschließ­lich für Mord, Bodybuilding, Lärm jeder Art, Kinds­mißbrauch und Schönheitsoperationen. Dem müsse Rech­nung getragen werden.

In der ersten Spielzeit unter dem neuen Intendanten gab es Goethes Urfaust in einer Bearbeitung durch Brat­wasser selbst. Seine Inszenierung brachte den stark ak­tualisierten Stoff in Form einer monumentalen Vorsorge­untersuchungs-Szene. Gespielt wurde an der Decke des Schauspielhauses. Der als Weihnachtsmann (mit Haken­kreuzbinde) kostümierte Faust warf Kinder nach Heiz­körpern, weil das leichter für ihn war, als Heizkörper nach Kindern zu werfen. Auch die Rolle des Gretchens war von Bratwasser gänzlich neu ausgedeutet worden. Die Darstellerin trat, wie es der Zeitgeist verlangte, voll­kommen unbekleidet auf, wurde mit Senf beschmiert und wälzte sich eine Stunde lang schrill schreiend an der Decke herum. Eine Haushaltsleiter aus Leichtmetall ver­körperte dabei das gute Prinzip. Simultan konnte auf überall verteilten Fernseh-Bildschirmen die Übertragung eines Fußball-Länderspiels verfolgt werden. Goethe selbst hätte es nicht besser machen können.

Man darf wirklich auf die zweite Spielzeit gespannt sein. Helmut Bratwasser hat nämlich angekündigt, er wolle den sozialen Wohnungsbau im Gewand des Shake­speareschen Hamlet auf die Bühne bringen. Der ab­genudelte Monolog »Sein oder Nichtsein« soll dann all­abendlich live in 12.000 Mietwohnungen umgewandelt werden.

© Eugen Egner