Das Theaterwunder von Weimar oder Stralsund
Wir erinnern uns: noch vor einem Jahr steckte das Weimarer Sprechtheater tief in der Krise. Es kann aber auch das Thalia-Theater zu Stralsund gewesen sein, so genau weiß man das nie. Jedenfalls wurden wahllos Rettungskonzepte ausprobiert, von denen keines tauglich war: Neuerrichtung des Schauspielhauses an anderer, geheimer Stelle, Verschärfung der Kontrollen im Kassenbereich, Abschaffung der Toiletten. Der Bühnenbetrieb war verquollen, das Programm verwest, der Schauspieldirektor verschwunden. In letzter Sekunde, als schon eine Wurstfabrik aus dem Theater gemacht werden sollte, wurde ein neuer Intendant verpflichtet. Wie durch ein Wunder war es kein Geringerer als der berüchtigte Helmut Bratwasser aus Berlin, der in Fachkreisen als »sechsmotorige Wildsau« galt. Im Privatfernsehen war er wiederholt dafür eingetreten, alles müsse »irgendwie anders« gemacht werden. Außer seinem zweiundvierzigköpfigen Harem und etwa siebzehn Tonnen Hausmüll brachte Bratwasser ein erstaunliches Konzept zur Reformierung und Sanierung des Bühnenbetriebs mit. Als unmittelbares Vorbild nannte er die große Gemäldereform nach Prof. Schlichtegroll, die dieser persönlich vom Klavier aus geleitet hatte, bis das Geld alle gewesen war. In Bratwassers Fall war das Geld bereits alle, bevor er sich ans Klavier setzen konnte. Genaugenommen reichte es nicht einmal mehr für ein Klavier. Der Presse gegenüber erklärte er, die Leute interessierten sich sowieso nicht für das Sprechtheater, welches in den meisten Städten auch unerträglich blöd sei. Die Leute interessierten sich seiner Meinung nach ausschließlich für Mord, Bodybuilding, Lärm jeder Art, Kindsmißbrauch und Schönheitsoperationen. Dem müsse Rechnung getragen werden. In der ersten Spielzeit unter dem neuen Intendanten gab es Goethes Urfaust in einer Bearbeitung durch Bratwasser selbst. Seine Inszenierung brachte den stark aktualisierten Stoff in Form einer monumentalen Vorsorgeuntersuchungs-Szene. Gespielt wurde an der Decke des Schauspielhauses. Der als Weihnachtsmann (mit Hakenkreuzbinde) kostümierte Faust warf Kinder nach Heizkörpern, weil das leichter für ihn war, als Heizkörper nach Kindern zu werfen. Auch die Rolle des Gretchens war von Bratwasser gänzlich neu ausgedeutet worden. Die Darstellerin trat, wie es der Zeitgeist verlangte, vollkommen unbekleidet auf, wurde mit Senf beschmiert und wälzte sich eine Stunde lang schrill schreiend an der Decke herum. Eine Haushaltsleiter aus Leichtmetall verkörperte dabei das gute Prinzip. Simultan konnte auf überall verteilten Fernseh-Bildschirmen die Übertragung eines Fußball-Länderspiels verfolgt werden. Goethe selbst hätte es nicht besser machen können. © Eugen Egner |