Dreiundsechzig

- als ich fünfzehn war -

von Roswitha Erdmann

Dreiundsechzig
- als ich fünfzehn war -
 
Das Jahr 1963 hat sich tief in mein Gedächtnis eingegraben. Ich war fünfzehn Jahre jung und erwachte langsam aus dem Dornröschenschlaf. Für Jugendliche war die Nachkriegszeit geprägt von konservativen Elternhäusern, Gehorsam und Aufbegehren, Schlüsselkindern, Wiederaufbau und beginnendem Wohlstand.
 
Als ich am Freitag, den 22. November 1963 morgens aus dem Fenster sah, war es dunkel, naß und kalt. Am liebsten hätte ich mich wieder ins Bett verkrochen, doch meine Mutter rief schon: „Aufstehen!“ Ich fror, als ich um halb acht zur Schule ging. Gerne hätte ich neue Winterstiefel gehabt. „Das hat noch Zeit“, sagten meine Eltern. Eine Mütze wollte ich nicht mehr tragen, mit fünfzehn holt man sich lieber kalte Ohren.
 
Es herrschte eine seltsame Stimmung. Ich wußte allerdings nicht, warum. Meine Laune war allgemein schlecht wegen der anstehenden Mathearbeit. Unterwegs traf ich Heide, die immer nach der neuesten Mode gekleidet war. Der Minirock war nach Deutschland hinüber geschwappt und Heide gehörte zu den ersten Mädchen, die sich trauten, ihn zu tragen. Lässig stand ihr Mantel offen, sodaß jeder ihre schönen langen Beine, die in Lackstiefeln steckten, bewundern konnte. Nach und nach gesellten sich noch andere Mädchen dazu und wir schwätzten uns warm. Wir hatten nur Mode im Kopf, Beat- und Rockmusik und Parties.
 

Foto © Roswitha Erdmann
Wir machten uns Idole, liefen 100 m in 10,0 Sekunden mit Armin Hary und tanzten mit Marika und Hans-Jürgen auf dem Eis. Schule war lästige Pflicht aber so wichtig, wie die Eltern immer predigten. „Wenn du nicht fleißig bist, gehst du in die Fabrik“, hieß es ständig“, und: „Schlag dir die Jungs aus dem Kopf“, oder ähnliche Sprüche. „Dafür ist es zu spät“, dachte ich dann, aufgeklärt hatte mich bereits Oswald Kolle.
Die Freundinnen flüsterten über Marlene, die in ein Erziehungsheim mußte, weil sie schon mit vierzehn einen festen Freund hatte und Sabine und Peter waren nach Gretna Green in Schottland . abgehauen, um dort zu heiraten. Anderen wiederum wurde das Internat angedroht. Und so flüchteten wir in unsere Scheinwelt und hielten Balance zwischen Schule, Elternhaus und Freizeit. 
 
Im April des Jahres hatte ich Konfirmation gehabt und im Sommer war ich fünfzehn Jahre alt geworden. Ich durfte zum ersten Mal einige Mädchen einladen. Wir aßen kalten Hund und tranken Bluna. Von den Freundinnen bekam ich Single-Schallplatten von den Beatles, Elvis und Rolling Stones geschenkt, die ich auf Vaters Schallplattenspieler legte. Wir übten die neuesten Tänze und lästerten über langhaarige Jungs in Schlaghosen. Doch eigentlich hätten wir schon gerne mit ihnen gefeiert.
 
Im Geschichtsunterricht sprachen wir übers Zeitgeschehen, da der amerikanische Präsident im Juni in Deutschland war. Kennedy sprach vom Schöneberger Rathaus zu den Berlinern und dem gesamten Volk und prägte die Worte: „Ich bin ein Berliner“. Vielen jungen Leuten war er ein Vorbild geworden, einer der einen drohenden Krieg von uns abwenden würde.
Denn der zweite Weltkrieg war immer noch ständiger Begleiter. Wir wollten gerne etwas wissen, doch die Eltern schwiegen sich aus. Es gab noch Ruinen zwischen den Häuserzeilen, die nach und nach modernen Häusern wichen. Immer mehr Autos belebten die Straßen und wir erfanden uns neu.
 

Foto © Roswitha Erdmann
Im Sommer fuhr unsere Familie, zwei Erwachsene und vier Kinder, in einem Opel Rekord, dunkelblau mit weißem Dach, in die Ferien nach Dänemark. Dort hatten wir ein Haus in den Dünen gemietet. Es war schnuckelig mit Reetdach und von der Besitzerfamilie liebevoll eingerichtet.  Meine Schwester und ich lernten andere Feriengäste kennen. Die Eltern ließen die Leine locker. Erste zarte Liebesbande wurden geknüpft, Pläne für die Zeit nach den Ferien gemacht. Danach hielt uns der Alltag wieder in seinen Klauen und ehe man sich umgedreht hatte, war der Herbst da. Die Ferienfreunde sollte ich nicht wieder sehen.
 
Am 22. November 1963 war etwas geschehen. Als ich aus der Schule nach Hause kam, saßen meine Eltern vor dem Radio. Kennedy war niedergeschossen worden, in Dallas/Texas. Wir warteten auf weitere Nachrichten. Sicher war er nur verletzt, er wurde noch operiert, die Ärzte werden ihn schon retten. Mußten. Doch der Himmel stürzte auf die Erde und riß alle Hoffnungen mit sich.
 
Es gab kein Wunder. Der Tod Kennedys zeichnete die Welt.
 

© Roswitha Erdmann