Der Spott der kleinen Dinge

Im Keller

von Lars von der Gönna

© Heiko Sakurai
Im Keller
 
Neulich war ich im Keller. „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit“, sagt Thomas Mann. Für mich ist dieser Satz der Beweis für Manns absolute Kellerlosigkeit. Wer glaubt, daß die Vergangenheit ein tiefer Brunnen ist, hat lange keinen Keller von innen gesehen. Aber das ist ja typisch. Es gibt ganze Studien über den Zusammenfall von Ahnungslosigkeit und Beschreibungstalent bei Thomas Mann. Er hat mit einem einzigen blöden Schwarz-Weiß-Bild aus Herders Volkslexikon seitenweise über eine Oase geschrieben. Und zwar so, daß man bloß vom Lesen einen trockenen Hals kriegte – und er den Nobelpreis.
     Die Erzählstruktur meines Kellers ist chronologisch. Ganz vorne ist er aktuell (kaputter Walking-Stock), nach hinten historisch: Hase & Igel, ein Spiel, das ich kaum mochte, man muß viel rechnen, Weihnachten 1979. Ein in Folie gelegter Motivschlips mit Micky Mäusen, ungetragen, Abschiedsgabe nach einem Praktikum in einer Tierhandlung 1981. Neun Märchenplatten, darunter meine liebste (Kasper tut der Hexe Schmierseife unter die Fußmatte, sie fällt auf den Hintern, er verrät sich durch Lachen, die Hexe hext Kasper in eine Dornenhecke, wo er 100 Jahre schlafen soll, der Förster kommt, um ihn zu befreien, dazu muß er Kasper küssen, dem Förster ist der Kasper aber zu häßlich, sein Dackel erledigt das, Kasper erwacht, Ende.) Die Platte liegt ganz weit hinten, aber ich kenne das Ende. Das ist unheimlich.
     Ich gehe nicht oft in den Keller. Er ist ein Spiegel aus Spinnweben und saurem Büchergeruch. Je voller er wird, desto älter ist man. Und man ist nicht gerne älter.
Ein Freund ging oft in den Keller, seit seine Frau ihre spirituelle Seite entdeckt hatte. Sie wollte auch seine entdecken und alles, was seiner Aura schadet, und hat, als er mit seinem Doppelkopfklub weg war, zum Beispiel seinen Calvados in den Ausguß geschüttet. Und mehrere Rheingau-Rieslinge von 1999. Da hat mein Freund das Heimwerken entdeckt. Er ging dazu in den Keller. Er ist sehr zurückhaltend, aber ich denke, daß er dort mit Hilfe der verbliebenen Flaschen um sein Chakra kämpfte.
     Die Frau ist jetzt ins Allgäu gezogen, ich glaube wegen einer Mondgöttin. Manche Dinge kann man nicht erfinden, die schreibt das Leben – oder schlimmstenfalls sein Keller.
 
 

© Lars von der Gönna - Aus dem Buch „Der Spott der kleinen Dinge“
mit freundlicher Erlaubnis des Verlags Henselowsky Boschmann und der WAZ.