Die Sprache lügt nicht

Zu Victor Klemperers LTI

von Jürgen Koller

Die Sprache lügt nicht
 
Zu Victor Klemperers LTI
Lingua Tertii Imperii – Sprache des Dritten Reichs
 
Es bleibt das unvergängliche Verdienst des Romanisten Victor Klemperer (1881-1960), der in seinem „Notizbuch eines Philologen / LTI – Sprache des Dritten Reichs“ (1947) die Sprache der Nazis nicht nur hinsichtlich des Sinngehalts der NS-Wörter und Wortschöpfungen, sondern auch der politisch-diktatorischen Verwendung in der tagtäglichen Propaganda dokumentiert und erhellt hat.
 
Klemperer, protestantischer Konvertit jüdischer Herkunft, wirkte an der TH Dresden seit 1920 als Ordinarius für Romanistik. Nach der Machtübernahme der Nazis im Januar 1933 blieb er als ehemaliger Kriegsfreiwilliger und aktiver Frontsoldat des 1. Weltkrieges vorerst noch im Lehramt. 1935 wurde er auf Order der sächsischen NS-Schulbehörde aus dem Hochschuldienst entlassen. Nunmehr ohne Lehrauftrag, widmete er sich intensiv seiner wissenschaftlichen Forschung über die französische Literatur des 18. Jahrhunderts. Ab Ende der dreißiger Jahre erhielt er, wie alle deutschen Juden - orthodox oder konvertiert -, Nutzungsverbot von Bibliotheken, auch wurde er aus seinem Haus vertrieben und zwangsweise in ein „Judenhaus“ einquartiert. Ab 1940 mußte er den gelben Judenstern als Stigma tragen. Da seine Frau Arierin war, blieb er von der Deportierung in ein Vernichtungslager verschont, mußte aber in einer Dresdner Kräutertee-Fabrik gemeinsam mit anderen jüdischen Intellektuellen harte Zwangsarbeit leisten. In der Nacht des Bombenangriffs auf Dresden vom 13. zum 14. Februar 1945 gelang ihm zusammen mit seiner Frau die Flucht aus dem brennenden Dresden – anfangs von Freunden in Sachsen versteckt, konnten sich beide Klemperers später nach Bayern durchschlagen, wo sie das Kriegsende erlebten.
 
Während der gesamten zwölf Jahre des Dritten Reichs notierte sich Klemperer aus philologischem Interesse Nazi-Wortschöpfungen – diese Loseblatt-Notizen überdauerten bei einer Freundin in Pirna an der Elbe das Schreckensregime. Hier sei auf einige dieser NS-Begriffe und Wortschöpfungen verwiesen: Aus dem angesehenen Dresdner Prof. Klemperer wurde Jud' Klemperer oder in Verhören der Gestapo „Klemperer, Du Judensau“; es wurde nur 'heroisch' gekämpft, so in den Ernteschlachten Ost-Preußens; die Wehrmacht leistete „fanatischen“ Widerstand gegen „die jüdisch-bolschewistischen roten Horden“; Gegner wurden nicht getötet, sondern „liquidiert“; jüdisches Eigentum wurde „arisiert“ als „Ausdruck des gesunden deutschen Volksempfindens“; vermögende Juden mußten bei beabsichtigtem Exil eine „Reichsflucht-Steuer“ entrichten; blonde, blauäugige slawische Kinder wurden „aufgenordet“, in Todes-Anzeigen für Gefallene hieß es in „stolzer Trauer“; Aufmärsche wurden „aufgezogen“, die Bevölkerung wurde mit dem „Winterhilfswerk“ und „Eintopf-Sonntagen“ traktiert; der „Führer“ wollte englische Städte „ausradieren“ und Goebbels sprach von „coventryieren“ (zerbomben wie Coventry) – beide Begriffe waren allerdings nur in den anfänglichen Siegeszeiten im NS-Sprachgebrauch - und als es mit dem „großdeutschen“ Reich zu Ende ging, wurde aus dem fluchtartigen Rückzug ganzer Divisionen eine beschönigende „Frontbegradigung“ und als selbsternannte „Ordnungsmacht“ verteidigte Deutschland zugleich „die Festung Europa“.
 
Bereits während der Weimarer Republik waren die linken und liberalen Blätter den erstarkenden Nazis als „jüdische Journaille“, eben als „Lügenpresse“, besonders verhaßt. Diese Blätter wurden bald nach 1933 „gleichgeschaltet“ oder verboten, die Journalisten verhaftet und in Lagern gequält. Es sei an den Nobel-Preisträger Carl von Ossietzky, Herausgeber der feuilletonistischen linken Zeitschrift „Die Weltbühne“ erinnert. Das Regierungssystem der Weimarer Verfassung mit seinen vielen Parteien, die sich gegenseitig lähmten, war für die Nazis das „System“ schlechthin und galt ihnen als übelste Regierungsform überhaupt. Die Beseitigung der Weimarer Republik war für die Nazis, neben dem obligaten Antisemitismus, Hauptziel ihres politischen Hasses und Kampfes. Der NS-Begriff „Systemzeit“ umfaßte den Zeitraum von 1918 bis 1933 und war als Bezeichnung dieses politischen Zeitabschnitts tief im Denken der Bevölkerung verwurzelt. Der Begriff hat bis in die Fünfziger Nachkriegsjahre hinein gewirkt.
 
In der aktuellen bundesdeutschen Polit-Landschaft finden sich Aspekte, die durchaus einen Bezug zu Klemperers LTI zulassen. Bei Demonstrationen und Kundgebungen am rechten politischen Spektrum gehören solche eindeutig nationalsozialistisch angehauchten Begriffe wie „System-Parteien“, „Lügenpresse“ oder „Volksverräter“, bezogen auf demokratische Parteien und deren frei gewählte Volksvertreter unseres Landes oder öffentlich-rechtliche TV- Sender und Printmedien, inzwischen zum gängigen Vokabular.
Die Versammlungs- und Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut und wird in großer Breite vom Grundgesetz abgedeckt. Und doch sollte dieses Haß-Vokabular unserer offenen Zivilgesellschaft zu denken geben – es ist eines demokratischen, auch konträr geführten Meinungsstreites unwürdig.
 
Der Titel eines französischen Films von 2004 über Victor Klemperer lautet zu Recht: Die Sprache lügt nicht!
 
Victor Klemperer - „LTI“  Lingua Tertii Imperii“
Notizbuch eines Philologen,
© 1975, Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig, 349 Seiten, Broschur