An Edvard Collin

Ein Sommerbrief, vor 180 Jahren geschrieben

von H.C. Andersen

H.C. Andersen an Edvard Collin
 
Lykkesholm [Fünen], 3. Juli 1836
 
Lieber Freund! „Ihr letzter Brief hat mich vielleicht mehr erfreut als gewöhnlich. Es ist so ein menschlicher Ton darin - ich möchte ihn, aber werden Sie nicht böse, ,kindlich' nennen -; jedoch ist er natürlich, wie immer, eine Mischung von liebenswürdiger Herzlichkeit und schulmeisterlicher Besonnenheit, eine Folge davon, daß Sie nicht mit sich selber im reinen sind, für welches Rollenfach Sie sich am besten eignen, oder was Ihnen am besten steht!“ Das ist ein hübscher Abschnitt, deshalb habe ich ihn nach Ihrem Brief kopiert und mir, wie Sie sehen, nur unbedeutende Veränderungen gestattet. Wie klug Sie mit Ihrem Deutsch umgehen! nun, Sie sind ja auch kürzlich in Altona gewesen, wo man riechen kann, was für Essen die Leute in Hamburg kochen. Ja, vom Reisen hat man viel Nutzen! Ich bin auch in der letzten Zeit viel in Fünen umhergereist, um die fünensche Sprache und Natur zu studieren. Welch eine Abwechslung dort! Neulich fuhren wir nur eine halbe Meile, aber die Wälder standen im schönsten „Grünspan“, den ein Mensch verlangen kann. Wir fuhren um eine Kirche herum, durch sie hindurch wagten wir nicht zu gehen, denn sie hatte rote Flecken, wies alle Symptome der Masern auf, draußen stand eine Mauerpille, die sie vielleicht gegen (*" Pille, dänisch = Säule und Pille. Unübersetzbares Wortspiel, Anmerkung d. Übers.) Abend einnehmen wollte, um gesund zu werden. Im Storchennest stand der Storch; als wir kamen, hob er das eine Bein hoch, er hätte sicher den Hut abgenommen, da er aber keinen hatte, meinte er bei sich: „Man tut, was man kann, aber nicht, was man muß.“ Wir sahen an einem Dorfteich auch eine Truthenne, welche die große Verantwortung auf sich geladen hatte, zwölf junge Entchen großzuziehen, sie gingen zum ersten Mal baden, und zwar ohne Gürtel, aber die Henne war auch in großer Aufregung, ich glaube, sie hatte selber einen Gürtel um. So habe ich auf Reisen ein Auge für die Natur, Sie hingegen für die Sprache, und das eine muß ja getan werden, dann kann das andere ruhig vernachlässigt werden.
 
Sagen Sie mir nun, lieber Freund! können Sie diesen ganzen Unsinn lustig finden, den ich jetzt geschrieben habe? Wollen Sie mich ärgern, so sagen Sie ja, wollen Sie schmeicheln, so sagen Sie das Gegenteil. Wenn ich auf dem Lande bin, esse und trinke wie auf einem Geburtstag, man mir ungeheuer schmeichelt und ich Sonnenwärme habe, dann fühle ich mich so richtig dazu aufgelegt, Unsinn zu erzählen. „Sie sind sehr witzig!“ höre ich sagen. Es ist schade, daß man mich daheim nicht gehört hat, wenn ich witzig bin. Ich könnte Ihnen ja ruhig einen kleinen Witz erzählen, „aber der soll für den Roman aufbewahrt werden!“ sagen Sie sicher. Das ist ungezogen von Ihnen, und daher bekommen Sie keinen! […] Sie fragen mich, was für einen Pudding es auf Lykkesholm gab, die Antwort ist: Marmorpudding. Ich werde Ihnen jedoch beschreiben, was wir gestern den ganzen Tag gegessen haben, dann können Sie davon auf die Lebensweise schließen. Zuerst Tee und Brot mit schöner Grasbutter; darauf Kaffee mit einer Sahne, die von selber stand. Das war um acht Uhr; aber um zehn Uhr bekamen wir junge Hähnchen und Spargel sowie Portwein. Um halb drei Fleischbrühe mit delikaten Fischklößen. Braten; Melone; Hecht. Hühner und Erdbeeren, darauf Kaffee. Um acht Uhr Tee und Christstollen mit der schönen Butter und um zehn Uhr Butterbrot mit allerlei Verschiedenem und warme (gebratene) Barsche. Dazu, wie zum Mittagessen, Rot- oder Weißwein. Es ist ein wahrhaft sybaritisches Leben, darum nahm ich auch eine herrliche Provinzrose mit ins Bett, die ich küßte, bevor ich mich schlafen legte und darauf unter das Kopfkissen steckte. Die Nonne hat ja ihren Bambino, Herrgott, so darf doch ein Dichter eine harmlose Provinzrose haben, namentlich wenn er nicht verlobt ist, fragen Sie Ihre Jette und meine anderen Freundinnen; Frau Drewsen und Louise sind imstande, so trappistisch zu sein, daß sie den „Rosenkuß“ unpassend finden, aber die haben leicht reden, die eine hat einen Mann, die andere einen Bräutigam, hätten sie das nicht, dann würden sie wohl auch die Rosen küssen. Ich habe ein Gedicht darüber verfaßt, das Sie bei Gelegenheit zu hören bekommen. […]


Schloß Lykkesholm - Foto © Lykkesholm Slot

Nun zurück zu Ihrem Brief! Sie, der Sie mich aufziehen wollen! Sie!!! kleiner Mensch! Natürlich waren Sie sich selber gleich! eine Ermahnung mußte ich doch bekommen. Es war keine Zeit, einen vernünftigen Rat zu schreiben, aber eine Ermahnung doch immerhin: „Es hat keinen Sinn, so lange im voraus an eine Sache zu denken, die, wenn überhaupt, erst in einem Jahr verwirklicht werden kann. Sehe ich da nicht in Ihrem „wenn überhaupt“ einen ganzen Satz aus Ihren alten Schulmeisterreden. Das war nicht auf „Verlangen“. Jetzt, während ich dies schreibe, bin ich richtig wütend auf Sie. Als ich hier oben auf der Seite war, hätte ich Sie küssen können, jetzt ganz unten habe ich Lust, Sie zu schütteln.
Aber nun bin ich wieder gut. Lassen Sie die Schwestern und die liebe Mutter einiges aus diesem Briefe lesen oder auch den ganzen Brief. Ihre Jette könnte ruhig selbst einen Gruß schicken. Louise hätte jetzt einen Brief bekommen, da sie mir aber für den, den sie bekommen, nicht gedankt hat, vermute ich, sie ist böse, weil ich ihr geschrieben habe. Die Pfarrfrau in Gudme sang mir neulich „Klein-Viggo“ nach der Kalundborgschen Melodie vor. Jetzt muß ich zum Kaffee, addio! Ihr „erwachsener“ Freund, der „einen so menschlichen Ton“ hat.