Der zornige Gott

Deborah Feldman – „Unorthodox“

von Steffi Engler

Unter aberwitzigen Regeln
 
Religiöser Fundamentalismus, gleich welcher Glaubenszugehörigkeit, ist eine Geißel für alle die, welche dabei die Unterdrückten sind - und das sind im wesentlichen stets die Frauen: im Islam, etlichen christlichen Sekten und dem chassidischen Judentum, hier insbesondere der Sekte der besonders strengen Satmar-Chassidim, die 1905 von Joel Teitelbaum in Rumänien gegründet wurde. Nach dem 2. Weltkrieg, von aus Europa kommenden Überlebenden des Holcaust im New Yorker Stadtteil Williamsburg (Brooklyn) neu begründet, ist diese ultra-orthodoxe jüdische Gemeinde die vielleicht radikalste Gruppierung des Judentums, die sich streng nach außen abschirmt. Als Frau in eine solche Gemeinde hineingeboren zu sein, ist gleichbedeutend mit völliger Unterwerfung unter die von Männern aufgestellten aberwitzigen religiösen Regeln, die das gesamte Leben bestimmen. Und ich meine das gesamte Leben.
 
Eine Gesellschaft, die Männer und Frauen trennt, in der Bücher verboten sind, die Sprache des Landes, in dem man lebt, als verboten und unrein betrachtet wird und nur Jiddisch gilt, eine Gesellschaft, in der Frauen nicht singen dürfen, jedes (scheinbare) Problem von einem Rabbiner entschieden wird, der natürlich nur ein Mann sein darf und sexuelle Aufklärung (beider Geschlechter) nicht stattfindet, muß in unserer Zeit anachronistisch wirken. Eine Gesellschaft, die Frauen zwingt, sich ihre eigenen Haare abzuschneiden und stattdessen Perücken, Hüte oder Turbane zu tragen, die Bildung für Frauen verbietet und Jungen täglich sieben Stunden lang in Religionsschulen zwingt, damit sie eines Tages als „Gelehrte“ gelten, während die Frauen nach ihrer pompös gefeierten arrangierten Eheschließung (wir nennen das bei Moslems Zwangsehe und verurteilen es) nur noch dem Haushalt und den Kindern gehören sollen – wobei sie bis dahin mangels Aufklärung nicht einmal wissen, wie das Kinderkriegen funktioniert, ja nicht einmal wissend, daß und wozu sie eine Vagina haben, die für ihren Mann als „unrein“ gelten und nicht berührt, am besten nicht angeschaut werden, wenn sie menstruieren - kann nur steinzeitlich genannt werden.
Doch es gibt eine solche Gesellschaft jetzt und heute mit ca. 120.000 Mitgliedern – mitten in Brooklyn/NYC – weltfremd, realitätsfern und radikal.
 
Deborah Feldman hatte das Schicksal, als Mädchen dort völlig fremdbestimmt und ohne eigene Identität aufzuwachsen, sich ausschließlich nach dem richten zu müssen, was Rabbiner, Thora-Gelehrte und ältere Frauen ihr anschafften. Wichtig im Sinne dieser Gesellschaft ist einzig allein die Befolgung aberwitziger Regeln, die nahezu endlose Reihe jüdischer Feiertage, die jeweils strengste Zeremonien mit sich bringen.
Deborah Feldmann erzählt in ihrem Buch „Unorthodox“ von ihrem Leiden und den Entwürdigungen unter den unsinnigen fundamentalistischen Regeln der Gesellschaft der Satmar-Chassidim, die keine Liebe, nur Pflichterfüllung gegenüber einem zornigen Gott kennen. Sie erzählt vom eigenen Erwachen, den Zweifeln an zweifelhaften Regeln, schließlich dem bewußten Ausbruch aus dem Gefängnis einer arrangierten Ehe, in der sie nichts als entweder unrein oder das Lustobjekt ihres Mannes war. Sie hat ihr Leben akribisch aufgezeichnet und ohne jeden Vorbehalt so anschaulich wie feinsinnig geschildert, daß man ihre religiöse und persönliche Entwicklung, die seelischen Qualen und das Wachsen des Wunsches, dieser grausamen Unterdrückung zu entfliehen, bei der Lektüre fast körperlich mitempfindet, miterleidet.
Es ist ein ungemein wichtiges Buch, menschlich erschütternd und sachlich aufklärerisch. Deborah Feldman, die mittlerweile in Deutschland lebt, ist nach wie vor dem jüdischen Glauben verbunden – die Befreiung von der chassidischen Unterdrückung aber ist ihr gelungen. „Unorthodox“ ist unser Buch des Monats und erhält unser Prädikat, den Musenkuß.
 
Deborah Feldman – „Unorthodox
(Autobiographie)
Aus dem amerikanischen Englisch von Christian Ruzicska
© 2016 Secession Verlag, 319 Seiten, Ganzleinen, Fadenheftung mit Lesebändchen
ISBN 978-3-905951-79-0
22,- €
Weitere Informationen:  www.secession-verlag.com -  www.deborahfeldman.com