Kino-Dramaturgie ohne falsche Töne

„Schellen-Ursli“ von Xavier Koller

von Renate Wagner

Schellen-Ursli
(Schweiz 2015)

Regie: Xavier Koller.
Mit: Jonas Hartmann, Julia Jeker, Leonardo Nigro, Laurin Michael u.a.
 
So leicht wie „Heidi“, die man in der ganzen Welt kennt, wird es der „Schellen-Ursli“ außerhalb der Schweiz wohl nicht haben, abgesehen davon, daß man bei dem Namen eher an ein Mädchen als an einen Uorsin (so heißt „Urs“ auf Rätoromanisch) denkt. Das in seiner Heimat berühmte Bilderbuch Selina Chönz und Alois Carigiet aus dem Jahr 1945 hat, so könnte man meinen, seinen Weg ins Kino nur auf den Spuren des so gelungenen „Heidi“-Films gemacht – aber tatsächlich scheint Xavier Koller, der Schweizer mit der bunten Karriere und Wohnsitz Los Angeles, sich schon früher wieder seiner Wurzeln besonnen zu haben und das Projekt angegangen zu sein.
 
Ein Kinderfilm, wo es auch noch um Tiere geht, um die bösen Reichen und die guten Armen – das ist keine leichte Übung, aber Koller ist zu intelligent, um da in irgendwelche Fallen zu tappen, obwohl er die originale Handlung zwecks Verfilmung ausweiten mußte und da natürlich das eine oder andere auf der Hand liegende „Dramatische“ eingearbeitet wurde. Dann sind die Bösen halt rothaarig und wirklich fies, aber schließlich gibt es so etwas ja auch im Leben…
Wir begeben uns also mir dem Ursli in sein Elternhaus, das ist zuerst irgendwo auf der Alm im Unter-Engadin. Da wird fleißig gearbeitet, denn die riesigen Käseballen, die der Vater (Marcus Signer) herstellt, sollen die Familie über den Winter bringen. Dann verläßt man die Welt da oben (die Natur spielt mit, ganz selbstverständlich, aber nie in Richtung süßlicher Idylle und auch nicht ideologisch auf „die wahre Einfachheit“ gepolt) – und dann passiert es auf der engen Straße ins Tal: Der Wagen der Familie kippt um, landet mit seiner ganzen Fracht im Bach. Ursli und seine ruhigen, verbal knappen, aber liebenswerten Eltern haben faktisch nichts, als sie in ihre Winterunterkunft kommen, müssen froh sein, wenn der Krämer anschreibt. Und die Mutter (Tonia Maria Zindel) muß in die Stadt fahren und dort in Dienst gehen, um etwas Geld beizusteuern.
 
Was anfangs nur wir als Kinozuschauer (später dann schon alle) wissen: Der Krämer Armon (Leonardo Nigro) war im Fluß fischen, als es die ganzen Käseballen hertrieb. Er nahm es als ein Geschenk des Himmels, lud sie auf, brachte sie heim (wohl wissend, wem sie gehörten) und machte in seinem Laden ein gutes Geschäft damit, während Urs und seine Familie darben. Glücklicherweise ohne Pathos – das ist ein gescheit ausgewogener Film.
Tragisch wird es natürlich unter den Kindern: Urslis größter Schatz ist seine kleine Ziege, die Zila, und genau die möchte Roman, der Sohn des Krämers (Laurin Michael), der genau so fies ist wie der Papa, unbedingt haben. Und er bekommt sie auch. Nun, es wird ein bißchen kindergeschichtig dick, wenn Urslis Freundin Seraina (Julia Jeker) sich nun aufmacht, die unrecht erworbene Ziege für Ursli zurückzustehlen. Psychologisch goldrichtig hingegen ist, daß Roman das Geheimnis vom herbeigeschwommenen Käse nicht für sich behalten kann und es ausgerechnet Seraina erzählt, um sich wichtig zu machen.
Der Titel des Films bezieht sich auf ein Glocken-Ritual, das im Dorf alljährlich zur Begrüßung des Frühlings abgehalten wird, wo der Vater Uorsin die größte Glocke versprochen hat – und auch diese ihm vom reichen Krämer für den eigenen Sohn weggekauft wird. Das Geld regiert nicht nur in der Wall Street, sondern auch im kleinsten Schweizer Dorf. Wenn der Urs dann im Winter auf die Alm aufsteigt, um die dort in der Hütte befindliche Glocke zu holen, weil es wichtig ist, sie zu haben (und nicht von den anderen Kindern verspottet zu werden), und wenn er dann von der Lawine verschüttet, aber doch noch gerettet wird - und der Pfarrer dann die Bösen in der Kirche vor der ganzen kleinen Gemeinde bloßstellt: Das ist Kino-Dramaturgie, aber mit einer gewissen nüchternen Selbstverständlichkeit hingestellt, die keinerlei Triefen, keinerlei falsche Töne erlaubt.
 
Besetzt wurden „originale“ Schweizer, und dem damals elfjährigen Jonas Hartmann gelang die Studie eines positiven Naturkindes, die man keine Sekunde anzweifelt. Er ist auch einer, der mit dem Wolf spricht – und selbst diese magischen Elemente zwischen Mensch und Tier (das später die Suchenden auf die Spur des verschütteten Ursli bringt) funktionieren fraglos.
Alle, alle sind sie richtig, die guten Eltern, die kluge Freundin, der böse Krämer und sein tückisches Kind, und nur selten rutscht dieser „Schellen Ursli“ vom Wahren ins Liebliche. Das ist ein erstaunlicher Film, der Junge kann sich mit Heidi die Hand reichen, diese Schweizer Kinder erreichen uns doch tatsächlich.
 
 
Renate Wagner