Ein Kotau vor der Jugend

Michele Serra – „Die Liegenden“

von Frank Becker

Ein Kotau vor der Jugend
 
Schon Sokrates (469-399 v.u.Z.) beklagte sich über die Lebensauffassung der Jugend seiner Zeit: „Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte. Die jungen Leute stehen nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern, schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch die Süßspeisen, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.“ Er steht in der langen Geschichte der Pädagogik und des Generationenstreits damit nicht alleine. Stets und überall wiederholt sich durch die Jahrhunderte das Lamento, und immer wieder heißt es, daß es nun aber tatsächlich so sei.
Michele Serra tut zu Beginn seiner Betrachtung „Die Liegenden“ über die Jugend von heute, am Beginn des 21- Jahrhunderts unserer Zeitrechnung nichts anderes, indem er eindrücklich die Generation und ihr Verhalten beschreibt, die man auch die Generation mit dem gesenkten Blick nennt. Er tut das mit Humor und Ironie, ja aus der Tiefe der gequälten Seele kommendem Sarkasmus. Stets klebt ihr Blick auf dem Display ihres Smartphones, i-pods oder Tablets – die Welt drumherum ist ausgeblendet. Na klar, all die Benefits elterlicher Finanzkraft und Fürsorge nehmen sie ohne Dank für Designerklamotten, die neueste Unterhaltungs- und Kommunikations-Elektronik oder die tägliche Ernährung als selbstverständlich in Anspruch. Am liebsten im Liegen. Eine Konversation findet nicht statt, wie auch, mit i-Pod, Kopfhörer, Smartphone, PC und Fernseher zur gleichen Zeit? Pflichten werden nicht übernommen, Schlachtfelder zurückgelassen, wo sie sich für eine gewisse Zeitspanne niedergelassen haben. Wo das Elternhaus einen Dreck zählt, steht man jedoch stundenlang vor einer Modeboutique an, um das angesagte T-Shirt für ein Schweinegeld (natürlich das der Eltern) zu erstehen.
Aber war das früher anders? Ich zögere mit der Antwort. Doch, doch, anders war es schon. Durch all den elektronischen Schnickschnack, den die Industrie den Jugendlichen heute aufschwatzt, den Druck, den aggressive Werbe-Strategien, Facebook, Whatsapp und der Zwang zur ständigen Erreichbarkeit ausüben und die unendlich vielen Ablenkungen, denen sie fast wehrlos ausgesetzt sind – hier müßte elterliche und schulische Erziehung greifen, wurden auch völlig andere äußere Bedingungen geschaffen. Gierig und hilflos zugleich rotiert ein Großteil der Jugend in diesem fürchterlichen Karussell.
Eine Lösung, vielleicht gar die Rettung, könnte in der gemeinsamen Besteigung des Colle della Nasca liegen, so wie der Autor es mit seinem Vater getan hat. Andere Momente der Annäherung scheinen nicht möglich zu sein, zu dicht sind die Schotten, die sein Sohn um sich geschlossen hat. Witzig schiebt Serra in sich stetig veränderndem Tonfall kleine Appelle in den Text ein, der gleichzeitig von Kapitel zu Kapitel moderater klingt. Wo erst die Phantasie eines Vernichtungskrieges der Alten gegen die Jungen erstrebenswert erscheint, rückt ein Moment der Verständigung in scheinbare Erreichbarkeit. Daß die ausgestreckte Hand dabei stets ausschließlich vom Vater kommt, sei am Rande angemerkt.
Wie es schließlich zu der ersehnten Bergwanderung kommt ist ebenso amüsant zu verfolgen, wie das übrige Buch zu lesen. Michele Serra ist ein wunderbarer Erzähler. Der schließliche Kratzfuß vor der kommenden Generation allerdings ist mir zu devot, der Kotau vor der Jugend, so wie sie sich darstellt, zu ergeben, der Kniefall ein wenig tief und zu würdelos.
 
Michele Serra – „Die Liegenden“
Aus dem Italienischen von Julika Brandestini
© 2016 Diogenes Verlag detebe 24352, 160 Seiten, Broschur - ISBN 978-3-257-24352-9
10,- € (D) / 10,30 (A) / sFr 13,-*
 
Weitere Informationen: www.diogenes.ch