Expect the Unexpected!

Tomi Ungerer im Museum Folkwang Essen

von André POLOczek

Expect the Unexpected!

Tomi Ungerer im Museum Folkwang Essen
 
Es gibt nicht viele satirische Graphiker, denen noch zu Lebzeiten der Ruhm zu Teil wird, ein eigenes Museum zu bekommen; in Straßburg findet sich seit 2007 das Musée Tomi Ungerer – centre international de l'illustration. Das ist fraglos ein erster Hinweis darauf, daß der 1931 im Elsass geborene Graphikmaniak einer der ganz großen ist. Daß die Sammlung in der Villa Greiner rund 11.000 Arbeiten, Kinderbuchillustrationen, Karikaturen und Werbezeichnungen sowie erotische Darstellungen umfaßt, ist ein zweiter Hinweis auf die Größe Ungerers; sein Œuvre ist riesenhaft (es sollen Schätzungen zufolge über 40.000 Arbeiten sein) und umfaßt auch Literarisches. Schließlich ist er auch der Textautor seiner Kinderbücher und seine Aphorismenbände sind absolut lesenswert.
INCOGNITO
 
Außerhalb seiner Heimatstadt wurde Ungerer 2011 im Frankfurter Caricatura Museum mit einer umfangreichen Werkschau geehrt und nun, beinahe fünf Jahre später, zeigt nach dem Kunsthaus Zürich das Essener Museum Folkwang INCOGNITO. Der Ausstellungstitel signalisiert – hier wird das weniger bekannte Ungerer-Werk vorgestellt: Collagen, Assemblagen und Plastiken. Daß das Multitalent auch diese künstlerischen Terrains beackert, ist freilich nicht allzu verwunderlich. Schon 1989 erschien bei Diogenes eine „Schnipp Schnapp“-betitelte Sammlung von Collagen. Ein offenkundig, jedoch sehr zu Unrecht, wenig beachtetes Buch. Es findet sich nicht einmal in den entsprechenden Bücherlisten in Ungerers wikipedia-Artikel. Gut, daß die INCOGNITO-Schau in Essen neben den eigentlichen Exponaten auch einen Leseraum anbietet, mit einer zwar bei weitem nicht vollständigen, aber umfänglichen Ungerer-Bibliothek. (Auf den hier ausliegenden Büchern finden sich rote und grüne Klebepunkte, wie sie üblicherweise als Verkaufsmakierungen in Kunstgalerien genutzt werden – in Essen allerdings markieren sie die Altersfreigabe. Die rotmarkierten Bände sind Erwachsenen vorbehalten, die grünen sind kindertauglich.)
 
Zurück in die Ausstellungsräume. Spätestens, wenn Arbeiten im vielbesuchten Museum Folkwang zu sehen sind, sind sie nicht mehr „INCOGNITO“. Und das ist gut so, denn selbst einem Museumspublikum, das mit den Kinderbüchern des Geschichtenerzählers großgeworden ist, oder das– heute im älteren Semester – eines der Anti-Vietnamkrieg-Poster in der WG-Küche hängen hatte, bietet die Ausstellung einige absolut sehenswerte Ausstellungsstücke. Mit großer Sachkenntnis und Unterstützung des Künstlers wurden einige Themenbereiche in kabinetthaft aufgeteilten Räumen zusammengestellt.
Kindheit im Krieg – Politische und Kulturplakate – Mann und Frau – Tiere – Wortspiele und Bildzeichen... . Trotz des gelungenen Versuchs der Ausstellungsmacher, Schwerpunkte zu bilden und ohne mit dem Anspruch aufzutreten, den gesamten Ungerer zu zeigen, wird deutlich: Hier ist ein Nimmermüder am Werk, einer der schon als Kind seine Erfahrungen im Nationalsozialistischen Elsass als Zeichner verarbeitet hat, einer der mit dem plakativ geführten Pinsel ebenso umzugehen weiß, wie mit der feinen Zeichenfeder, einer der die Schere nimmt und das Skalpell, um auszuschneiden und anschließend neu zusammenzufügen. Mal eher kleinformatig, doch in jüngerer Zeit häufiger in groß, plakathaft. Das ist einer der auffälligsten Unterschiede zwischen den noch im vergangenen Jahrtausend entstandenen Collagen in „Schnipp Schnapp“ und den jüngeren Arbeiten: War da noch die gezeichnete Linie, der Strich in Kombination mit Ausgeschnittenem; dann sind es nun oft reine Fotomontagen. Bei der Titel-Collage zu INCOGNITO etwa wird der Krawattenknoten zum eselsköpfigen Caput eines zigarrehaltenden Pseudo-Dandys, während ein offenbar verendetes Zebra die Szene sarkastisch-zynisch ergänzt. Nicht die Collage ist sarkastisch - die Realität ist es. Unser Umgang mit Tieren ist es. Unser Umgang miteinander ist es. Das zeigen viele der Arbeiten. Und dieser realexistierende Zynismus wäre nicht zu ertragen, gäbe es nicht den Humor. Humor ist wohl auch in manchen Lebenslagen der Lebensretter für den heute 84jährigen gewesen. Das wird deutlich in dem ebenfalls in der Ausstellung zu sehenden Film „Far Out Isn't Far Enough“. The Tomi Ungerer Story. Ein englischsprachiger, französisch untertitelter Dokumentarfilm aus dem Jahr 2012; er dauert 98 Minuten und keine einzige davon ist langweilig. Schließlich erzählt Ungerer darin von seinem äußerst wechselvollen Künstlerleben. Kein graphisches Werk ist so groß und deckt eine so große Spannbreite ab, wie seines. Das politische Agitations-Plakat aus der Zeit in New York, die erotischen Blätter aus der Sado-Maso-Szene, die Kinderbuch-Illustrationen... das alles geht auf eine Kuhhaut – auf die von Tomi Ungerer.


© Tomi Ungerer - Privatbesitz
 
Zur Ausstellung ist ein sehr angemessen gestalteter Katalog erschienen, der ebenso dreisprachig daherkommt, wie der Künstler selbst. Deutsch, Englisch, Französisch.
„Tomi Ungerer – Incognito“
© 2015 Diogenes Verlag, 424 Seiten, Hardcover Ganzleinen, ISBN 978-3-257-02133-2
€ (D) 49.00 / (A) 50.40 / sFr 59.00 unverb. Preisempfehlung
 
Weitere Informationen: www.diogenes.ch - www.museum-folkwang.de