Müller-Reißwolf-Retrospektive

Eine Erzählung

von Eugen Egner
Müller-Reißwolf-Retrospektive

Die Komponistin Müller-Reißwolf, deren Vornamen niemand kennt, stand im Ruf, Mozart vergiftet zu haben. Zeitlebens mußte sie gegen dieses absurde Vorurteil ankämpfen, wies auch immer wieder auf den großen Zeitabstand zwischen Mozarts Tod und ihrer Geburt hin. Es half nichts: die Masse ist dumm und glaubt lieber jeden Unsinn, statt sich auf Tatsachen einzulassen. Genauso hartnäckig hält sich noch heute das Gerücht, Müller-Reißwolf habe diverse Kompositionen Mozarts unterschlagen und als ihre eigenen Schöpfungen ausgegeben. Mitleid empfinden die meisten Menschen nur deshalb mit ihr, weil sie, so lange sie lebte, nicht ein einziges Bild verkauft hat.
Dieser bedeutenden deutschen Künstlerin des ausgehenden Zwanzigsten Jahrhunderts, die immerhin unvergessene Opern wie »Die Vergiftung Mozarts durch Marat«, Liederzyklen wie »Eine Handvoll Flusen im Mund« oder Kantaten wie »Schlimmer als das liebe Vieh« geschaffen hat, ohne je den Kammerton A zu verwenden, widmet ihre Heimatstadt Wuppertal in diesen Tagen eine großangelegte Retrospektive. Zur Aufführung gelangten neben stark verkleinerten Lizenzausgaben ihrer Großwerke auch Rekonstruktionen verschollener oder lediglich eingebildeter Kompositionen. Absalom Süßmilch (CDU), der Initiator der Retrospektive und Dirigent des Müller- Reißwolf- Revival- Orchesters, verlangt dem von Sparmaßnahmen geschwächten Klangkörper das Äußerste ab. Zur Entspannung dürfen die Musiker allabendlich nach den Konzerten große Mengen Altglas mit Stöcken zerschlagen. Das hat ihre Gewerkschaft durchgesetzt, und man darf annehmen, daß es ganz im Sinne der gefeierten Komponistin ist.
Auch ein öffentliches Müller-Reißwolf-Gedächtnis-Wett-Trinken im Foyer des unter dem Vorwand von Brandschutz- Umbaumaßnahmen restlos verhunzten Opernhauses ist geplant. Die Getränke können in einer Zeit leerer Kassen (das Verhunzen des Opernhauses ist enorm kostspielig) leider nicht gestellt werden. Ersatzweise soll Falschgeld mit dem Porträt der Künstlerin in Umlauf gebracht werden. Den Höhepunkt der Veranstaltungsreihe dürfte wohl das Herausreißen der schwarzen Tasten aus dem Manual der Barmer Domorgel bilden.
Vor der von Schrill-Records termingerecht auf den Markt geworfenen CD-Edition Müller-Reißwolfscher Werke muß allerdings gewarnt werden. Etlichen Käufern sollen beim Anhören der Einspielungen die Nasenhaare bis zu den Knöcheln gewachsen sein. Zu der längst überfälligen, jetzt endlich vorliegenden Biographie (Verlag Weisser Stein, Greiz, 198 Euro) sei abschließend angemerkt: wenn es z.B. auch sehr interessant zu erfahren ist, daß Müller-Reißwolf durch den Gebrauch einer bestimmten fetthaltigen Salbe zu ihrem künstlerischen Personalstil gefunden hat, räumt Verleger und Herausgeber M. Rudolf der angeblichen Brustbehaarung von Müller-Reißwolf doch entschieden zu viel Raum in seinem ansonsten leidlich sauber gemachten, fast zwölfseitigen Heft­chen ein. Darüber hinaus erscheinen uns auch gewisse Spekulation höchst überflüssig. Etwa die, ob die Komponistin überhaupt in der Lage war, Musik von Schraubenschlüsseln zu unterscheiden.

©  Eugen Egner - Erstveröffentlichung in den Musenblätterm 2007
Beispielbild
Eugen Egner - Foto © Frank Becker

Eugen Egner, * 10.10.1951 in Ingelfingen

Dichter phantastischer Prosa (Auswahl: "Androiden auf Milchbasis", "Gift Gottes", "Die Eisenberg-Konstante", "Aus der Welt der Menschen", "Der Universums-Stulp")
Erfinder glaubhafter Biographien ("Die Tagebücher des W.A. Mozart", "Aus dem Tagebuch eines Trinkers")
Hörspiel-Autor (u.a. "Das Schattenfräulein", "Was macht eigentlich Harry Absolut?")
Zeichner (u.a. "Meisterwerke der grauen Periode", "Als die Erlkönige sich Freiheiten herausnahmen", "Gefährliche Gitarristen")
selbst gefährlicher Stromgitarrist