Der Sitz der Götter

„Himalaya“ - Philipp Parker (Hrsg.)

von Frank Becker

Zum Sitz der Götter
 
Hundert göttliche Zeitalter reichen nicht aus,
um alle Wunder des Himalaya zu beschreiben.
(aus den Puranas, der „Alten Geschichte“)
 
Der Himalaya ist aus den unterschiedlichsten Motiven ein Traumziel: für Forschungsreisende,
Sinnsuchende, Mystiker, Abenteurer und vor allem für Bergsteiger, die ihre Grenzen suchen. Ich erinnere mich als wäre es gestern gewesen daran, wie ich als ganz kleiner Junge mit meinem Vater im Kino den Dokumentarfilm über die Erstbesteigung des Mt. Everest durch Edmund Hillary und Tenzing Norgay gesehen habe – und es nie vergessen konnte. Ein Bergsteiger bin ich dadurch zwar nicht geworden, aber ein Bewunderer der Berge und von Menschen, die solche großartigen Leistungen jenseits des Alltäglichen vollbringen. Womit ich nicht die heutigen lächerlichen Bergtouristen meine, die sich in der kurzen Saison von Sherpas in kilometerlangen Schlangen auf den Qomolangma bringen lassen und den heiligen Berg vermüllen. Die verdienen keinen Respekt, sondern Verachtung. Wenn ich gelegentlich in der Zeitung lese, daß eine 80-jährige Oma, ein Blinder, ein Einbeiniger oder jemand mit seinem 10-jährigen Sohn den Mt. Everest „bezwungen“ hat, bleibt mir nur ein Kopfschütteln. Wann wird wohl ein Schlepplift gebaut werden, damit auch Rollstuhlfahrer hinauf gelangen können? Aber zurück zum eigentlichen Thema.
Im Konrad Theiss Verlag / WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) ist soeben der prächtige, zeitgeschichtlich aufgebaute Bildband „Himalaya – Die höchsten Berge der Welt und ihre Eroberung“ eines internationalen Autorenteams über die Eroberung der Gipfel des Himalaya erschienen. Auf der Doppel-Titelseite zeigt der Band eine der oben geschmähten Bergsteiger-Schlangen – wer es nicht gesehen hat, möchte es nicht glauben. Der Journalist Peter Kunz klagt in seinem Vorwort zum Buch über eben diese rücksichtslose Kommerzialisierung der Bergsteigerei, und auch Herausgeber Philip Parker sieht in seiner Einführung darin einen schlimmen Fehler.
 
Acht Fachleute blättern in neun übersichtlichen Kapiteln die Geschichte der Entdeckung des Himalaya zwischen Indien und China, Bhutan und Nepal, Tibet und Pakistan auf. Die Umweltspezialistin Madeleine Lewis eröffnet den durchweg hervorragen illustrierten Band mit einer knappen einführenden erdgeschichtlich-topographischen „Bilanz“ dieser beeindruckenden Bergregion mit zehn der 14 Achttausender der Erde. Der in Oxford promovierte Himalaya-Wissenschaftler Georgios T. Halkias erläutert im Anschluß die  politische und kulturelle Geschichte und Mythologie dieser wilden, etwa 1.000.000 km² umfassenden Gebirgslandschaft. Stewart Weaver, Historiker an der Universität Rochester/New York, vermittelt in zwei Kapiteln einen Überblick über die Erschließung und Vermessung der Berge durch Pilger und Mönche, Entdecker, Geographen und Eroberer im 19. Jahrhundert.
Die militärische Durchsetzung britischer Interessen im an die Berge stoßenden Indien öffnete zugleich bis dahin verschlossene Zugänge zu den Himalaya-Königreichen. Das historische Unrecht wurde zum Glück von Bergsteigern und Abenteurern. Die Filmproduzentin und Bergsteigerin Amanda Faber und der Bergsteiger Stephen Venables erzählen in ihren spannenden Kapiteln von den Jahren 1891 bis zum Ausbruch des 2. Weltkriegs 1939 und von den ersten Versuchen, die Riesen Lhotse, K2, Nanga Parbat, Annapurna Kangchendzönga u.a., sowie den begehrten Qomolangma zu bezwingen. Der Dokumentarfilmer Mick Conefrey, spezialisiert auf Expeditionen und Bergsteigen und Autor eines viel beachteten Buches über die Everest-Erstbesteigung 1953 hat natürlich auch hier dieses Thema packend behandelt.
1953 gelang auch die Erstbesteigung des Nanga Parbat, des „Schicksalsberg der Deutschen“ durch den Tiroler Hermann Buhl. Davon und von den Expeditionen zum Lhotse, zum Kangchendzönga, zum Nuptse und Changtse während des „goldenen Zeitalters“ des Bergsteigens im Himalaya erzählt Peter Gillman, führender Autor zum Bergsteigen und Verfasser einer Mallory-Biographie. Doug Scott schließlich behandelt die Zeit von 1961 bis heute. Der erfahrene Bergsteiger (45 Expeditionen, 40 Gipfelbesteigungen, 20 Erstbesteigungen) beschreibt neue Techniken und Routen zum Erreichen der höchsten Gipfel im Himalaya – und die Bezwingung des Nanda Devi, sowie des letzten Achttausendes, des Shisha Pangma.


Das Dach der Welt, der Sitz der Götter - Foto © Gabriele Bech-Andersen

„Himalaya“ ist ein unerhört spannendes Buch, das mit seinen knappen Kapiteln, Karten und historischen Fotos von Erfolgen und Katastrophen am Berg erzählt. Viele Bergsteiger haben ihr Leben im Himalaya gelassen, andere die Erfüllung ihrer Träume erlebt. Wer einen Begriff davon im heimischen Ohrensessel bekommen möchte, einen Einstieg ins Thema, ist mit diesem Buch bestens beraten. Ausführliche Literaturhinweise helfen dem, der ein Kapitel vertiefen möchte, und ein detailliertes Register hilft zum Auffinden von Namen, Orten und Begriffen. „Himalaya“ wird von den Musenblättern empfohlen.
 
„Himalaya“  - Philipp Parker (Hrsg.)
Die höchsten Berge der Welt und ihre Eroberung
Aus dem Englischen von Iris Newton. Mit einem Vorwort von Peter Kunz.
 
© 2016 WBG / Konrad Theiss Verlag, 192 Seiten, geb. mit illustr. Schutzumschlag und über 200 Abbildungen und Karten, 19,7 x 26,7 cm  -  ISBN: 9783806232295
29,95 €
 
Weitere Informationen:  www.wbg-verlage.de/