Der Mann von der Müllkippe

Josef Formánek - „Die Wahrheit sagen“ (Mluviti pravdu)

von Frank Becker

Der Mann von der Müllkippe
 
„Lebe und gedenke des Todes;
die Zeit fliegt, und das was ich sage,
ist schon nicht mehr da.“
(Persius)
 
Mit Bernard „Benny“ Mares* hat Josef Formánek mit Hilfe einer realen Biographie einen potenzierten Oliver Twist des 20. Jahrhunderts geschaffen, der alle Niederungen und einige kurze Höhepunkte eines unerhörten menschlichen Schicksals erfahren hat: in einer Straßenbahn geborener vaterloser, auf einer Kirchentreppe ausgesetzter Findling, von einer gnadenlosen Bürokratie einer liebevollen Pflege entzogen, Waisenhauszögling, Träumer, Bäckerlehrling, heimatloses Mitglied der SS, Soldat im grausamen Fronteinsatz, in russischer und amerikanischer Kriegsgefangenschaft, Übersetzer und Fahrer für die SS und die Russen, Mitglied und Funktionär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KSČ), dann Staatsfeind, Zuchthäusler, Auswanderer, Barbesitzer, Zuhälter – und immer wieder: Liebender.
 
Als Formánek diesem eigenwilligen alten Mann auf der Müllkippe begegnet, wo dieser in einer Hütte ein kurioses Leben führt, ergibt sich nach anfänglicher Abwehr seitens Mares* eine stets unter Spannung stehende Atmosphäre des Vertrauens zwischen den beiden Männern, die dazu führt, daß der alte Mann dem wißbegierigen Journalisten auch das intimste seines Lebens offenbart. Freimütig erzählt er seinem Biographen von den Kriegsverbrechen, deren Zeuge er war, von Schlägen und der Unterdrückung, die er selbst erfuhr, von seinen ewigen Jugendhelden, dem Wilden Bill und dem Langen Dick, von seiner großen Liebe zu der jüdischen KZ-Insassin Sophie, die er, selber ein SS-Mann, im Außenlager Mauthausen sah und fortan begehrte. Nicht immer gerne sprach er darüber, was ihm andere angetan hatten, und doch erfahren wir grausame Einzelheiten von den Demütigungen und Quälereien durch die Russen, den tschechischen Gefängnisdirektor Hauptmann König in Walditz und den fortgesetzten sexuellen Mißbrauch durch Mitgefangene dort. Benny gibt nie klein bei. Läßt sich nicht einordnen. Sagt ohne Rücksicht auf sich selbst die Wahrheit. Übersteht alles. Irgendwie.
 
Formánek schreibt, in eine Gesprächs-Rahmenhandlung eingebettet, das Leben Bennys, seine sich unendlich reihenden Katastrophen, Hoffnungen, Träume, Qualen auf. Wüßte man nicht, daß die Geschichte des Protagonisten auf einem realen Leben basiert – nämlich auf dem von Waldemar Solar*, man müßte an die schlimmere, äußerst brutale Variante eines „Simplicissimus Teutsch“ denken. Josef Formánek hat Solars Leben getreulich nacherzählt, ein Schicksal, das man niemandem wünscht, das einer Müllkippe gleicht. Der echte „Benny“, Waldemar Solar war 1923 in Wien geboren worden, lebte in Österreich, der Tschechoslowakei, Deutschland, Venezuela und zuletzt in Aussig, wo er 2012 starb. Den Erfolg um seine Lebensgeschichte hat er bei der Erstauflage des Buches 2008 in Prag noch miterlebt. Schon Jahrzehnte zuvor hatte sich der Spiegel für seine schier unglaubliche Geschichte interessiert und Solar 50.000,- DM geboten, doch der lehnte ab - bis er Formánek traf.
 
„Formánek umkreist mit seiner Figur die großen Fragen des Menschseins, die Fragen nach dem Umgang mit der Wahrheit, dem Suchen nach dem richtigen Leben, dem Ringen um die eigenen Prinzipien und die Frage, wie man seinem Schicksal gegenübertritt, nicht aufgibt in einer Welt wie dieser“ schreibt der Verlag. Formánek, selber ein Getriebener, ist vielleicht einer der wenigen, die überhaupt in der Lage sein könnten, einem solchen Leben literarisch Gestalt zu geben. Einen „Brutalen Roman über die Liebe zum Leben“ nennt sich das Buch im Untertitel. Das trifft zu. Selten habe ich eine Lebensbeschreibung, Roman oder Biographie mit soviel Atemlosigkeit, Anteilnahme und manchmal Abscheu gelesen – und selten so viel Bereicherung aus einem Buch gezogen. „Die Wahrheit sagen“ ist ein starkes Buch - und eine Empfehlung wert.
 
„Vielleicht ist das der Sinn des Lebens, daß niemand uns antwortet,
denn es gibt so viele Antworten wie menschliche Schicksale.
Wir müssen selbst dahinter kommen. Dem Leben selbst eine Antwort geben.
Es mit Sinn füllen, einem Sinn, der unsere Seelen vorwärtstreibt
wie er Wind die farbigen Ballons der alten Ballonfahrer; so können
wir über die Landschaft des Lebens segeln, ohne zu wissen,
wo wir stranden oder sicher landen.“
 (S. 470)
Josef Formánek  - „Die Wahrheit sagen“ (Mluviti pravdu)
Brutaler Roman über die Liebe zum Leben
Aus dem Tschechischen von Martin Roscher
© 2016 Gekko World / © 2008 Smart Press Prag, 477 Seiten, Hardcover, Fadenheftung, Lesebändchen - ISBN: 978-80-906354-0-1
23,- €
Weitere Informationen:  www.gekkoworld.de/