Wie sah der Dichter William Shakespeare aus?

Nach der gültigen Lesart starb William Shakespeare heute vor 400 Jahren in Stratford on Avon.

von Edwin Bormann

Die Stratford-Büste
Wie sah der Dichter
William Shakespeare aus?


Die einen sagen: wie der Schauspieler William Shakspere (1564-1616), geboren, gestorben und begraben in Stratford am Avon; denn er ist der Shakespeare-Dichter. Die andern: wie Francis Bacon (1561-1626), geboren und gestorben in London, begraben in der St. Michael's Kirche bei St. Albans; denn er ist der Shakespeare-Dichter, der sich des Mannes William Shakspere aus Stratford und seines veränderten Namens nur als deckender Maske bediente. Lassen wir noch einmal zunächst die Berechtigung beider Anschauungen gelten, so zerfällt demgemäss die Frage nach dem Aussehen des Dichters in zwei; erstens wie sah der Schauspieler Shakspere, zweitens wie sah Francis Bacon aus? Im Zusammentragen des Bildermaterials unterstützten mich auf das Freundlichste Herr Professor Georg Cantor in Halle durch seine reiche Porträt-Sammlung, die Firma Longmans, Green & Co. in London, die Firma Sampson Low, Marston and Company in London, die Firma G. Grote'sche Verlagsbuchhandlung in Berlin, die Firma Walker & Boutall in London und Herr Kunsthändler Georg Müller in Leipzig. Bacon's Grabmonument wurde auf meine Veranlassung in St. Albans nach der Natur photographirt. Die Porträts sind absichtlich auf einzelne Tafeln gedruckt, damit man sie beliebig nebeneinander legen; ihre Bezeichnung absichtlich auf die Rückseite der Tafeln gesetzt, damit der Beschauer ganz unbefangen vergleichen und experirnentiren kann.
 
Wie sah der Schauspieler William Shakspere aus? (Die Stratford-Büste und ihre Nachahmungen.)

Die älteste aller Darstellungen des Schauspielers ist die buntbemalte Kalksteinbüste auf dem Grabdenkmale in der Dreifaltigkeits-Kirche in Stratford am Avon. 1616 starb der Schauspieler, die Büste wurde innerhalb der nächsten sieben Jahre, 1616-1623, wahrscheinlich näher dem letzteren Zeitpunkte, hergestellt. Der Künstler war Gerrard oder Gerald Johnson, ein Holländer, der, einer völlig aus der Luft gegriffenen Annahme gemäss, nach der Todtenmaske gearbeitet haben soll. Bürgen für die Richtigkeit der Büste sind die Verwandten des Schauspielers, seine Witwe, seine Töchter und sein Schwiegersohn, sowie seine Stratforder Mitbürger, die ihn bis zum Jahre 1616 unter sich wandeln sahen. Die Büste zeigt einen kahlen Schädel von Locken umgeben, ein rundes feistes Bonvivant-Gesicht mit kräftig ausgebildeter Unterhälfte, nach oben geschwungenem Schnurrbärtchen, kurzem Kinnbart, wulstigen, etwas geöffneten Lippen, zwischen denen die Zunge etwas hervorschaut. Die Hände ruhen auf einem Kissen, und der Dargestellte scheint zu schreiben. Ich sage scheint, denn in der That ist die Stellung des Schreibens ganz eigenthümlich. Die Augen sind nicht auf's Papier, sondern gerade nach vorn gerichtet, weniger mit einem überlegenden oder gar begeisterten Ausdruck, als vielmehr mit der Miene des Glotzens. In den Händen sind Papier und Feder; aber die Feder ruht nicht auf dem Papier, sondern schwebt in der rechten Hand direct über dem Kissen, während das Papier unter der linken liegt. Die ursprüngliche Feder ist nicht mehr vorhanden, wohl aber das Zeugniss dafür, dass ihr Schnabel weit aus- einander gespalten war, eine Feder, mit der man nicht schreiben konnte. Das Gewand ist einfach, Wams mit schlichtem ärmellosern Ueberwurf, schmaler Kragen. Dass das Bildwerk' nur entfernt das zur Darstellung brachte, was wir sehen möchten, die geistige Grösse eines wissens-, gemüth- und humorvollen Dichters, wird kein Beschauer sagen können.   

Edwin Bormann, 1902 in „Der Shakespeare-Dichter – Wer war´s und wie sah er aus“.


Nach der gültigen Lesart starb William Shakespeare heute vor 400 Jahren in Stratford on Avon.