Ein Reiter galoppiert durch Europa
(Die Lust der Farben) Mehr als „nur“ ein Roman mit Bezügen zu Kunst und Zeitgeschichte ist Roland Künzels aufsehenerregendes Buch „Blaue Reiter vor Verdun“. Näher und persönlicher hat sich wohl noch kein Romancier oder Sachbuchautor an die Protagonisten der legendären expressionistischen Künstlervereinigung „Der blaue Reiter“ herangeschrieben, intimer haben Leser diesen wegweisenden Männern und ihren Frauen bislang nicht begegnen können. Dichter war man am Leben und am Sterben August Mackes und Franz Marcs nie.
Über die Person und Lebensgeschichte des Malers August Macke (1877-1914) und seiner Frau Elisabeth nähert sich Roland Künzel einer von München und dem bayrischen Umland ausgehenden Revolution in der Malerei. Mackes haben in Bonn, wo sie anfangs leben, wenig Geld, August verdient als Bühnenbildner nicht viel, man ist jedoch durch Elisabeths Einkünfte aus dem väterlichen Vermögen gesichert. Immer wieder, auch später lockt Paris mit seinen großen künstlerischen Vorbildern der Fauve wie Matisse, Dufy oder Braque - oder dem Farb- und Formzauberer Robert Delauny – ein Reichtum an Farben und neuen Impulsen ist der Lohn. Mackes ziehen nach München, wo wir mit ihnen in die Bohème jener Umbruchszeit eintauchen, dann an den Tegernsee, schließlich der Abgeschiedenheit wegen an den Thunersee. Macke lernt 1910 den sieben Jahre älteren Franz Marc (1880-1916) und dessen spätere Frau Maria Franck kennen, der Beginn einer einzigartigen Künstlerfreundschaft, eines sich gegenseitig wieder und wieder kreativen Befruchtens.
Neue Künstlervereinigung München, Münchner Neue Secession, Sonderbund, Blauer Reiter – der Ab- und Aufspaltungsprozeß innerhalb der jungen Kunstszene Münchens entwickelte eine ungemein kraftvolle Dynamik mit Ergebnissen, die bis auf den Tag die bildende Kunst beeinflußt und glücklicherweise nicht zuletzt durch Mäzene, vorausschauende Sammler wie Bernhard Koehler und kluge Kunsthändler die Anfeindungen der etablierten Kunstwelt überstand. Der 1911 von Marc und Kandinsky gegen Adolf Erbslöh und die Münchner Neue Secession strategisch kalkuliert gegründete Blaue Reiter setzte sich durch.
Textauszug: „Ein Reiter galoppiert durch Europa, blau gewandet, auf feurigem Ross; ungestüm, schnaubend, kraftstrotzend. Ein heiliger Georg zu Pferde, der mit seiner Lanze die Tür zu einem neuen Zeitalter aufstoßen will. Die Siegesmeldungen wollen nicht verstummen:
Köln! Berlin! Hagen! Frankfurt! Hamburg! Rotterdam/ Amsterdam! Barmen! Wien! Prag! Budapest! Königsberg! Oslo! Lund! Helsinki! Stockholm! Trondheim! Göteborg!
Der Schlachtenlärm hallt in der Presse nach:
Horde klecksender Brüllaffen! Den Betrachter der Bilder überkommt ein gelindes Grauen... Der Blaue Reiter wäre ein interessantes Objekt für eine psychiatrische Studie...
Der Reiter lässt sich davon nicht beirren. Aus dem Blauen Reiter wird eine ganze Horde, die durch die Museen und Galerien stürmt. Was im November noch mit drei Räumen in der Galerie Thannhauser und wenigen Künstlern begonnen hatte, weitet sich aus zu einem Flächenbrand, der von Franz und Maria noch angefacht wird: Sie haben in Berlin nicht nur Marias Eltern und Bernhard Koehler besucht, sondern auch neue Reiter rekrutiert: Kirchner! Schmitt-Rottluff! Pechsteinl Mueller! Heckel! Kokoschka! Sie alle wollen mit ausstellen. Und noch einen Namen bringt er mit: Herwarth Walden.
„Der zeigt den Blauen Reiter in seiner Galerie Der Sturm“, meldet Franz zufrieden. August hat im Gegenzug geholfen, den Kölner Gereonsclub als Ausstellungsraum zu gewinnen. In Hagen bietet sich das Folkwang-Museum an. Sogar Moskau ruft. Tür um Tür öffnet sich.“
1914, knapp vor dem bereits gespürten Ausbruch des Weltkriegs reisen Macke, Paul Klee und Louis Moilliet gemeinsam nach Tunis, um das wunderbare Licht des Orients zu skizzieren. Als der Krieg schließlich ausbricht, eilen Macke und Marc patriotisch überzeugt zu den Fahnen. Macke fällt am 26. September 1914 im Alter von 27 Jahren an der französischen Front bei in der Champagne, Marc am 4. März 1916 bei Verdun. Paul Klee, 1916 zum Landsturm eingezogen, als er sich in die neutrale Schweiz absetzen wollte, überlebt den Krieg an der Heimatfront als Schreiber. Alexej Jawlensky ist rechtzeitig vor der drohenden Internierung in seine russische Heimat geflohen. Der Blaue Reiter ist tot.
Roland Künzels hervorragend recherchiertes, auf den Fakten der Biographien Mackes, Marcs, Klees und der anderen Mitglieder der jungen Münchner Künstlervereinigungen der Wende zum 20. Jahrhundert aufgebautes Buch glänzt mit Detailkenntnis, sorgfältig ausgewählten und zitierten Briefauszügen und Tagebüchern sowie seinen brillanten Dialogen. Künzel ist mit dem einerseits federleichten, andererseits eine Epoche und ihre Schicksale tief auslotenden Roman, mit seinen wie mit dem Malerpinsel ausgeführten Naturbildern und den sensibel zusammengeführten Erzählsträngen als Romancier und Kunstkenner unstreitbar ein Meisterstück für Leser und Kunstfreunde gelungen. Von der Musenblätter-Redaktion mit unserem Prädikat, dem Musenkuß ausgezeichnet und unser Buch des Monats.
Roland Künzel – „Blaue Reiter vor Verdun“
© 2015 Roland Künzel / Verlag epubli Berlin, 244 Seiten, Broschur – ISBN 978-3-7375-2773-6
9,95 €
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