Aussagestark, gelungen - mit Abstrichen

„Vor der Morgenröte“ von Maria Schrader

von Renate Wagner

Vor der Morgenröte
(
Deutschland/Österreich - 2016)

Drehbuch und Regie: Maria Schrader
Mit: Josef Hader, Barbara Sukowa, Aenne Schwarz, Matthias Brandt, Sarah Viktoria Frick u.a.
 
Ein Film wie dieser bietet Überraschungen. So hätte man kaum für möglich gehalten, daß eine Schauspielerin, die man stets interessant fand (vor allem in den Filmen von Dani Levy), deren erste Regiearbeit vor neun Jahren jedoch ziemlich unbeachtet blieb, einen Film dieser Größenordnung auf die Beine stellen würde – der noch dazu für sich in Anspruch nehmen kann, an einem ganz großen Thema nicht zu scheitern: Maria Schrader hat es geschafft.
Denn ist das Leben von Stefan Zweig ein Thema? Der elegante, hochgeistige Herr aus Wien, Novellist (die „Schachnovelle“ ist nicht das einzige seiner weltberühmt gewordenen, bis heute weltweit gelesenen Prosawerke), populärer Sachbuchautor („Sternstunden der Menschheit“, Biographien über Maria Stuart und Marie Antoinette) und mit „Die Welt von gestern“ einer der überzeugendsten Analytiker der Habsburger-Monarchie – was hat sich äußerlich in seinem Leben, viel auf Reisen, dann in Salzburg residiert, schon viel getan?
Nun, er emigrierte notgedrungen wie alle jene seiner jüdischen Mitbürger, die den Absprung aus Nazi-Deutschland und –Österreich schafften, er ließ sich ganz komfortabel, wie man weiß, in Brasilien nieder, schöne Gegend, schönes Haus, und hat sich doch gemeinsam mit seiner zweiten Frau Lotte mit Hilfe von Gift in der Nacht vom 22. auf den 23. Februar 1942 das Leben genommen. Sein Abschiedsbrief, immer wieder zitiert, enthält die ergreifenden Schlußworte: „Ich grüße alle meine Freunde! Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus“.
 
Unter dem Titel „Vor der Morgenröte“ hat Maria Schrader nun Zweigs Emigration nachgezeichnet, allerdings nicht in Form eines linearen und am Ende gar sentimentalen „Bio-Pics“. Vielmehr wählte sie vier signifikante Stationen seiner „letzten Reise“ von 1936 an, bis sie im Epilog in beispielhafter Diskretion den Tod des Ehepaar Zweigs schildert – nur in einem Spiegel, durch eine aufgehende Kastentür, sieht man die beiden tot auf dem Bett (es gibt ein Foto davon).
Die gewählten Stationen sind ungemein aussagestark und zeichnen auch eine Entwicklung nach. Zuerst begegnet man dem gefeierten Stefan Zweig 1936 bei einem Schriftstellerkongress des Pen-Clubs in Buenos Aires. Obwohl im Deutschen Reich 1933 auch seine  Bücher verbrannt worden sind, will er in einem Interview nicht pauschal gegen die Deutschen Stellung beziehen – in irrationaler Verbundenheit mit einer Welt, in die er nicht zurückkehren würde. Stärkster Moment dieser Episode ist es, wenn andere, kämpferischer, der Bestialität den Krieg erklären – als Höhepunkt liest Schriftsteller Emil Ludwig die Namen jener vor, die aus Deutschland vertrieben wurden: die Creme de la Creme des Geisteslebens.
Auf der Suche nach einem Ort, wo er sich niederlassen könnte, kommt Stefan Zweig mit seiner zweiten Gattin Lotte nach Brasilien und versucht dort (am Beispiel einer Zuckerrohr-Plantage, wo er sich Pflanzen und Ernten erklären läßt) gewissenhaft eine neue Welt zu erobern, sich für Land und Leute zu interessieren, auch wenn sie ihm so fremd sind. Lotte, die einst seine Sekretärin gewesen war, organisiert noch immer alles für ihn – die Besuche bei den heimischen Potentaten, die alle so stolz sind, sich den großen Dichter anheften zu können, die Weiterreise…
 
Am beklemmendsten ist vielleicht die Episode im eiskalten New York (nach dem glühend heißen Brasilien), wo Zweig seine Ex-Gattin Friderike besucht, der er mit ihren beiden Töchtern (seine Stieftöchter, die ihm in Salzburg immer so auf die Nerven gegangen waren, wie man aus Zweig-Biographien weiß) zur Ausreise verholfen hat. Hier liegt der Schwerpunkt auf all den Freunden und Bekannten, die irgendwo an den Rändern Europas verzweifelt versuchen, Visa für die Vereinigten Staaten zu bekommen – und letztendlich von Zweig Hilfe erwarteten, was als Verpflichtung wie eine Zentnerlast auf seinen Schultern liegt.
Und dann wieder Sonne, staubige Straßen, aber doch ein schönes Haus: Stefan Zweig in seiner letzten Station, in Petrópolis, der angenehm in den Bergen gelegenen Stadt bei Rio de Janeiro (wo auch Brasiliens „österreichische“ Kaiserin, Leopoldine – die Tochter von Kaiser Franz I. –  ein Sommerschloß hatte). Zweig, anerkannt, auch arbeitsbereit (er schreibt an der „Schachnovelle“ und seinen Memoiren), ist wegen seines „Brasilien“-Buchs angegriffen worden, weil er sein Gastland in Dankbarkeit allzu rosig gezeichnet hat. Er trifft Ernst Feder, den Journalisten aus Berlin, der sich auch hier niederläßt. Freunde schenken ihm einen Hund… man könnte hoffen, daß dies der Ort ist, wo er das Ende des in Europa tobenden Krieges in Ruhe abwarten kann.
 
Er hat es nicht getan, es fehlte ihm die Kraft, und der ergreifende Epilog mit kurzem Blick auf die Toten und dem Verlesen des Abschiedsbriefes schafft es, genau so nüchtern und unsentimental zu sein wie der ganze Film – und das ist letztlich seine Stärke.
Maria Schrader, deren Budget nicht für die Originalschauplätze, wohl aber für Portugal reichte, hat viele fremdsprachige Schauspieler besetzt, nur wenige bekannte Namen gewählt. Weniger affektiert, als sie in ihren eigenen Memoiren erscheint, spielt Barbara Sukowa die erste Gattin Friderike, in New York unermüdlich in Emigrantenkreisen unterwegs. Vom Burgtheater hat die Regisseurin zwei Schauspielerinnen geholt – weniger überzeugend Sarah Viktoria Frick, die ihren Hang zur Übertreibung auch einer Zweig-Tochter schenkt, großartig hingegen in ihrer Zurückhaltung ist Aenne Schwarz als zweite Gattin Lotte (sie hat in ihrer ganzen  Tätigkeit am Burgtheater noch nichts ähnlich Überzeugendes geleistet).
Bemerkenswerte Darsteller in kleinen Rollen – Charly Hübner etwa als der leidenschaftlich argumentierende und Zweig damit beschämende Emil Ludwig oder Matthias Brandt als Ernst Feder mit der tiefen Traurigkeit der Entwurzelten, der sich, wie alle Emigranten, ein neues Leben aufbauen muß. Zweig ging den Weg bewußt nicht zu Ende (Feder, einer der wichtigsten Zeugen von Zweig in Petrópolis, ist nach dem Krieg nach Berlin zurückgekehrt).
 
Erstaunlich, in welchem Ausmaß Josef Hader (an den man für diese Rolle auf Anhieb ja nun wirklich nicht gedacht hätte) Stefan Zweig gleich sieht: ein feiner, schüchterner Herr in tadellosen Anzügen, persönliche Verklemmtheit ahnen lassend, die hinter guten Manieren und höflicher Verbindlichkeit verborgen wird, auf jeden Fall eine zunehmend verlorene Seele.
Aber Hader ist nur Stefan Zweig, solange er nicht den Mund aufmacht. Unfaßlich, daß weder die Regisseurin noch er selbst begriffen haben, was die Sprache zerstören kann. Sobald „Stefan Zweig“ spricht, ist er Josef Hader, in seinem bekannt-unverkennbaren Vorstadt-Jargon, ja, der Prolo-Einschlag ist nicht zu überhören. Für Zweig, einen Mann, dessen „Vornehmheit“ geradezu zelebriert wurde, der edelstes, gebildetes, vielsprachiges österreichisch-jüdisches Großbürgertum verkörperte, undenkbar – nein, so darf er nicht klingen.
Unglaublich, wie viel Abstriche man solcherart bei einem im Grunde so gelungenen Film machen muß.
 
 
Renate Wagner