Else Lasker-Schüler-Lyrikpreis 2016 an Safiye Can

„Diese Haltestelle habe ich mir gemacht“

Red.

Foto © Wolfgang Schmidt
Else Lasker-Schüler-Lyrikpreis an
Safiye Can


Der Else Lasker-Schüler-Lyrikpreis 2016 wird an Safiye Can am 11. November in Wuppertal verliehen. Er ist mit 3.000 Euro dotiert und war - besser ausgestattet - bislang nur zweimal vergeben worden, 1994 an Thomas Kling und 1996 an Friederike Mayröcker.
 
Safiye Can kam 1977 als Kind tscherkessischer „Gastarbeiter“ der Zweiten Generation aus der Türkei, in Offenbach am Main zur Welt. Wurzelnd einerseits in der Sprache und Kultur ihrer Eltern, anderseits aufwachsend in Offenbach, unmittelbar angrenzend an Goethes Geburtsstadt Frankfurt, studierte Safiye Can dort Philosophie, Psychoanalyse und Rechtswissenschaft und schloss als Jahrgangsbeste ihr Studium ab.
Zentrales Thema in der Lyrik Safiye Cans ist die irritierende, verunsichernde Liebe, die das Lyrische Ich häufig zur Selbstvergewisserung treibt – wie beim titelgebenden Gedicht ihres zweiten Buchs: Diese Haltestelle habe ich mir gemacht, dessen Titel bereits ein Verweis auf eine Übergangs- und Durchgangssituation ist.
 
Die „Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik“ attestiert Can einen 'impressionistischen Grundgestus der Gedichte, der sich in rhythmisch-melodischen Sequenzen umsetzt.'  In ihrem jüngsten Lyrikband finden sich Gedichte, die auf den Spuren der Konkreten Poesie des Wiener Kreises, eines Ernst Jandls oder Eugen Gomringer wandeln, die phonetischen, visuellen und akustischen Dimensionen der Sprache nutzen und dennoch immer und jederzeit noch als ein Safiye Can-Gedicht erkennbar und wahrnehmbar  bleiben. Manche ihrer Poeme erinnern an den literarischen Surrealismus, läßt ein ins Lyrische gewandelten Italo Calvino durchschimmern, der mit intelligenten Verwirrspielen den Leser in ein narratives Spiegelkabinett lockt und mit-nimmt auf einen poetischen Trip in die Camera obscura unseres Bewußtseins, neue Vexierbilder von Wirklichkeiten schaffend.
Dabei sind die Quellen, aus denen sich die Lyrik der Autorin speist, nicht zu übersehen – die Überlieferungen der orientalischen Literatur und ihrer Symbolik, etwa das 'Rose und Nachtigall'-Motiv in der tausendjährigen arabischen, persischen und türkischen Tradition, das ihrem ersten Gedichtband den Titel gab und der jetzt die 4. Auflage im Verlag Größenwahn, Frankfurt, erlebt.
 
So wie Anfang des 20. Jahrhunderts mit Else Lasker-Schülers Poesie, so ist mit Safiye Cans beiden Gedichtbänden ein neuer Ton in die deutschsprachige Lyrik gekommen und zugleich ein transkultureller Zungenschlag, der erfrischend, belebend wirkt. Auch als Ausdruck eines gesellschaftlich-kulturellen Klimawandels: Treibstoff für einen lyrischen transkulturellen Dialog zwischen orientalischer und okzidentaler Welt. Hier werden Utopien Goethes aufgegriffen, der beim Studium der persischen Literatur ahnte, daß dort ein ganz großer Schatz zu heben sei und in den Gedichten des West-Östlichen Divans seine eigene lyrische Sprache um das Dunkle und Chiffrenhafte, um das Märchenhafte und Skurrile erweiterte.
Safiye Cans Gedichte sind in einem utopischen und zugleich genuin poetischen Sinne Zeitdokumente, Dokumente eines Wandels wie zu Zeiten Else Lasker-Schülers.
 
Redaktion: Frank Becker