Tiefgehendes Portrait eines Genies - ein Meisterwerk

„Die Poesie des Unendlichen“ von Matt Brown

von Renate Wagner

Die Poesie des Unendlichen
(The Man Who Knew Infinity - GB 2015)

Regie: Matt Brown
Mit: Dev Patel, Jeremy Irons, Toby Jones, Jeremy Northam, Stephen Fry u.a.
 
Es gibt Begabungen, für die es keine Erklärung gibt, und die so außerordentlich sind, daß die Mitmenschen nur zu den Begriffen „Genie“ oder gar „Gottesgabe“ Zuflucht nehmen können. Und da sucht sich Gott dann nicht nur jemanden aus, der unbedingt „paßt“ (wie der kleine Musikersohn aus Salzburg) – da schüttete er die Gabe eines Verständnisses für Höhere Mathematik auch an einen Inder aus dem bescheidenen indischen Bundesstaat Tamil Nadu aus.
 
Briten und Inder haben lange daran gearbeitet, um Srinivasa Ramanujan (1887-1920) jenes filmische Denkmal zu setzen, das er verdient – BBC berichtete schon 2006 von dem Projekt, knapp zehn Jahre später kam es dann doch zur Welt – und ist ein Meisterstück von Regisseur / Drehbuchautor Matt Brown geworden, den man eigentlich nicht kennt. Er hat es geschafft, sowohl die drei Persönlichkeiten, um die sich die Geschichte dreht, plastisch zu machen – wie auch das Thema an sich, die „Mathematik“, als etwas Faszinierendes hinzustellen.
Ramanujan – hinreißend dargestellt von Dev Patel, dem unvergessenen „Slumdog Millionär“ – wird zuerst in seiner Jugend in Indien gezeigt. Wie kann ein solches Talent, das Heft um Heft mit Formeln füllt, die keiner versteht, Verständnis finden? Bei einem reichen Briten (Stephen Fry als Sir Francis Spring) darf er gerade Buchhaltung machen: Man rät ihm, doch pro forma den Abakus zu benützen, damit er nicht zu sehr auffällt, aber bei ihm geht jede Rechenoperation natürlich im Kopf viel schneller. (Nebenbei haben auch Ehefrau und dominierende Mutter ihre Rolle im indischen Teil von Ramanujans Geschichte.)
Das ist kein Drehbuch, sondern ein echtes Schicksal, also kann man eigentlich nur dankbar sein, daß einer der vielen Briefe, die Ramanujan nach Cambridge an G. H. Hardy, den berühmtesten Mathematiker seiner Zeit, schrieb, von diesem geöffnet wurde. Der hielt ihn zuerst für einen Scherz (die Briten neigen zu dergleichen) seines ebenbürtigen Kollegen John Edensor Littlewood, aber dieser leugnete. Gemeinsam setzten sie sich über die Formeln, die nur sie verstehen konnten – und tatsächlich wurde Srinivasa Ramanujan nach Cambridge eingeladen, wo er sich von 1914 bis 1919 am Trinity College aufhielt.
 
Der Film zeigt ziemlich schonungslos den englischen Rassismus auf – Indien, die Kronkolonie, war eigentlich nur dazu gedacht, die Briten reich zu machen, nicht, selbständig Menschen zu produzieren, die Anspruch erhoben, sich gleichwertig neben den Herrenmenschen zu bewegen. Demütigungen und Ausgrenzungen blieben Ramanujan nicht erspart. Aber er konnte auch mit G. H. Hardy zusammen arbeiten (Littlewood holten die Briten in den Ersten Weltkrieg, damit er ihnen die Positionen der Kanonen mathematisch berechnete), und die beiden müssen – Hardy als strenger Lehrer, Ramanujan als Genie, das gezwungen wurde, seine aus der Luft gegriffene mathematische Inspiration auch zu beweisen – gemeinsam Großartiges geleistet haben. Sagen die Fachleute, und man glaubt ihnen natürlich, weiß man es doch selbst nicht.
Gehen wir davon aus, daß die meisten Menschen froh sind, ihre Mathematik-Matura geschafft zu haben, und, wenn sie nicht gerade bei Versicherungen, Steuerberatern oder in Buchhaltungen landen, am liebsten gar nichts mehr von Mathematik hören wollen. Will sagen: Die meisten von uns haben keine Ahnung, was die Leute da oben auf der Leinwand besprechen. Und doch schafft es dieser Film, daß man der Geschichte mit selten erreichter Faszination folgt. Nicht nur den privaten Aspekten, wobei vor allem Jeremy Irons als Hardy, aber ebenso Toby Jones als John Edensor Littlewood differenzierte Meisterleistungen von denkenden Menschen liefern. Als Durchschnittsmensch ist man froh, in Gestalt von Jeremy Northam dem verständnisvollen Bertrand Russell in Cambridge zu begegnen – diesen, der als Philosoph weltberühmt wurde, kennt man wenigstens…
Kann man sich seit langer Zeit an ein schöneres, tiefer gehendes Biopic erinnern als an diese Geschichte des so früh, mit 33 Jahren verstorbenen Genies, der Inder in England? Nein!
 
 
Renate Wagner