Der warnende Schatten

von Karl Lerbs

© 1957 Carl Schünemann Verlag
Der warnende Schatten

Ein Lokomotivführer, der einen Nachtschnellzug zu fahren hatte, fühlte sich, als er die mächtige Maschine angelassen hatte und auf ihr, die unter den ersten donnernden Dampfstößen erbebte, in die feuchtwarme Herbstnacht hinausglitt, von einem Vorgefühl nahenden Unheils bedrückt und bedrängt. Er war zu anderen Zeiten ein derber, plumper, etwas barscher Mann, der pünktlich, ruhig und ohne langes Bedenken seine Griffe und Hantierungen tat; nun aber stand er in einer ihm sonst ganz fremden, zerrenden, überwachen Gespanntheit und starrte aus dem Fenster auf die Strecke, als gelte es, dem ersten unvermuteten Vorstoß eines tückisch verborgenen Feindes zu begegnen. Es war gegen Abend ein starkes Gewitter niedergegangen; nun war die lichtlose Nacht ganz mit Feuchte vollgesogen, die alles widrig lau überrieselte und als modrig schmeckender Dunst den Atem benahm. Sie lag als dünne, rötlich mißfarbene Wolke auf den kleinen Bahnhöfen, an denen der Zug vorübersauste; sie dämpfte das Dröhnen der Maschine und das Geknatter der Räder; sie trübte das Licht der Signale und war wie eine gestaltlose Drohung, die jeden Augenblick sich zu schrecklicher, zermalmender Wirklichkeit verdichten konnte.
Als der Zug, die Ebene verlassend, zwischen den ersten waldigen Hängen des Gebirges dahinfuhr und der Führer nach einem Blick auf die Uhr die Geschwindigkeit steigern wollte, sah er eine Erscheinung, die seine schon zum Hebel gehobene Hand herabsinken ließ. Der Dunst hatte sich hier in einen weißlichen Nebel gewandelt, aus dem die elektrischen Scheinwerfer der Lokomotive anfänglich scharf abgesetzte Lichtkegel schnitten. In dem rechten Lichtkegel aber, der rasch sich erweiternd und dann machtlos verströmend in den Nebel stieß, lebte und regte sich ein Schatten. Nicht deutlich, nicht greifbar; ein zuckendes Huschen, ein Flirren, dann ein gespenstisches Bäumen und Regen großer Gliedmaßen, nun wieder ein bebendes Geflatter, ein irres Kreisen, ein Niedersinken - und, plötzlich, ein langsames, hilfloses Greifen ins Leere. So schwebte es unablässig, immer da und doch nie ganz erkennbar, immer vor dem Zuge her. Der Führer fühlte, wie ihm ein nie gekanntes Grauen ans Herz griff. Er packte den Heizer, der eben mit Kohlen vom Tender kam, an der Schulter und wies ihm die Erscheinung; der aber, ein frecher, gleichgültiger Bursche, sah nur kurz hin, zuckte die Achseln und riß, ein paar unverständliche Spottworte schreiend, die Feuertür auf. Nun wollte der Führer mit einem entschlossenen Ruck der Schultern die Beklemmung abschütteln und wieder zum Hebel greifen; wieder aber ließ er, noch einmal hinausblickend, den Arm sinken. Immer war es vor dem Zuge, unablässig da und doch nie ganz erkennbar: ein zuckendes Huschen, ein Flirren, ein irres Kreisen, ein bebendes Geflatter, ein gespenstisches Greifen großer Schattenarme ins Leere.
Der Führer, von einem jähen, heißen Zorn gepackt, beschloß plötzlich, dieser unerklärlichen, geisterhaften Bedrohung ein Ende zu machen, und sei es um den Preis des Lächerlichwerdens und des dienstlichen Verweises. Er stieß den Fahrthebel herab und zog die Bremse. Klirrend knallten die Bremsklötze gegen die Räder; der Zug schlingerte, stampfte, kreischte - lief langsamer, stand. Als der Führer abgestiegen war und, nach einem vergeblichen Rundblick, den Scheinwerfer untersuchte, fand er alsbald die Ursache der seltsamen, immer noch andauernden Erscheinung. In dem Raume zwischen den beiden Linsen des Scheinwerfers war eine große Stechmücke gefangen, die, versengt und erstickt, mit einem ihrer langen Flügel festgeklemmt, langsam zappelnd ihre letzten Zuckungen tat. Ein nachlässiger Putzer hatte das Tier übersehen und die äußere Klappe schlecht geschlossen; so suchte es sich mit verzweifelten, dann immer schwächeren und zuweilen zuckenden Bewegungen zu befreien - indessen der Reflektor sein riesenhaft vergrößertes Bild, seine ins Gigantische verzerrten Regungen auf den Nebel warf.
Der Mann stand eine Weile, das auf seiner Handfläche liegende Tier betrachtend, stumm vor der ungeduldig zischenden Maschine, ohne auf die erregten Fragen des herbeigeeilten Zugführers und die höhnischen Bemerkungen des Heizers zu antworten. Dann wollte er sich langsam, wie von einem Traum befangen, wieder der Maschine zuwenden - als plötzlich ein starker Windstoß den Nebel zerriß und die Strecke weithin vom Licht der Maschine und einem fahlen Mondglanz erhellt wurde. Da nun sah man, daß knapp dreißig Meter vor dem haltenden Zuge die Strecke ein einziges Gewirr von Trümmern war. Ein vom Regen losgewaschener riesiger Felsblock war mit einer Lawine von Steinen, Erde und Baumstämmen auf die Strecke gestürzt und hatte sie zerschmettert und verschüttet.
Während überall im Zuge Türen aufklappten, Reisende fragend und schreiend durcheinanderliefen, Schaffner Laternen schwangen und der Zugführer Befehle brüllte, stand der Lokomotivführer eine Weile reglos; dann, in einem jähen Erbeben, schwankte er und sank, die weitgeöffneten Augen immer noch auf das tote Tier in seiner Hand geheftet, langsam in die Knie.
 
 
Karl Lerbs