Was im Leben wahrscheinlich ist
Ihre bislang dunkelsten Abschnitte verdankt meine Biografie Vormittagen zwischen dem 12. und 18. Lebensjahr. Genauer: dem Mathematikunterricht. Nichts verstand ich. Alles ein Rätsel. Alles? Es gab Ausnahmen. Kleine Freuden bereitete mir die Geometrie. Sie hatte den Vorteil, daß der Zirkel zum Pieksen von Mädchen taugte, die man nett fand. Auch die Wahrscheinlichkeitsrechnung war mir zunächst unwahrscheinlich sympathisch. Mittels dieser ließ sich ermitteln, wie wahrscheinlich Dinge eintraten. Das gefiel mir. Und bei manchen Sachen war ich zu 100 Prozent sicher, daß sie eintraten. Heiligabend zum Beispiel. Oder eine Fünf in Bodenturnen. Es kam in der Klassenarbeit aber leider anspruchsvoller: „Wenn man in der Tasche acht grüne und drei rote Murmeln hat, wie wahrscheinlich ist es, daß man beim ersten Mal eine rote zieht?“ Das Problem war, daß ich meine roten Murmeln am Vortag gegen ein Jupp-Derwall-Sammelbild getauscht hatte. Derwall kam in den Formeln, die ich gepaukt hatte, nicht vor. Auch der Gaußschen Normalverteilung war ]upp fremd.
Das ist lange her. Und doch hat mich die Wahrscheinlichkeitsrechnung mehr als einmal eingeholt. Da hörte ich, daß es wahrscheinlicher sei, vom Blitz getroffen zu werden als sechs Richtige zu haben. Dagegen waren sechs Richtige wiederum wesentlich wahrscheinlicher, als im Meer von einem Hai verzehrt zu werden. Mich als bodenständigen Westfalen hat das verunsichert. Blieb ich im Bett, traf mich kein Blitz. Badete ich im Meer, konnte ich keinen Lottoschein ausfüllen. Eine Gleichung mit Unbekannten. Ob Gauß das gewußt hat? Ich halte es für relativ wahrscheinlich.
© Lars von der Gönna - Aus dem Buch „Der Spott der kleinen Dinge“
mit freundlicher Erlaubnis des Verlags Henselowsky Boschmann und der WAZ.
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