Die Bücherregale links von meinem Schreibtisch…

Heinz Rölleke zum 80. Geburtstag am 6. November 2016

von Lothar Bluhm

Prof. Dr. Lothar Bluhm - Foto: privat
Die Bücherregale links von meinem Schreibtisch…

Heinz Rölleke zum 80. Geburtstag am 6. November 2016
 
Links von meinem heimischen Schreibtisch stehen zwei größere Bücherregale. Gelegentlich bezeichne ich sie als meine ‚Handbibliothek‘, obwohl dies streng genommen nur für eines der beiden Regale gilt. Es enthält oft genutzte Handbücher und wechselnde Literatur, die ich für aktuelle Arbeiten, für Vorlesungen oder für Seminare benötige. Das andere Regal enthält Bücher von Freunden und engen Kollegen, von akademischen Lehrern und vereinzelt auch von Lehrern dieser Lehrer. Und zunehmend auch Bücher von eigenen Schülern. Gelegentlich sind die Kontakte zu den Autoren nur noch flüchtig oder ganz abgerissen, manchmal gar nicht mehr möglich. Meist ist es unmittelbare germanistische Fachliteratur, seltener sind Editionen, die in der Mehrzahl anderswo im Haus untergebracht sind. In nicht wenige dieser Bücher sind auch Sonderdrucke oder anderes Schrifttum eingelegt. Regelmäßig kommt etwas hinzu, sodaß der Platz längst knapp geworden und oft schon eine zweite Reihe entstanden ist. In gewisser Hinsicht stellt der Bestand eine sehr persönliche Geschichte der eigenen wissenschaftlichen Entwicklung dar. Er zeigt Beziehungen und Vernetzungen, Lehrer- und Schülerkonstellationen, Gruppenbildungen, Prägungen und Wirkungen. Und er zeigt Gewichtungen.
 
So ist es kein Zufall, daß der Name Heinz Rölleke auf nicht wenigen der Buchrücken steht, mehr noch: Es ist der größte Block von Büchern einer einzelnen Persönlichkeit: Monographien und Sammelbände, Editionen und Herausgeberschaften. Wenn ich recht gezählt habe, sind es insgesamt 52 Einzelbände, gelegentlich Buchausgaben in mehreren Auflagen. Alle zeigen Lesespuren, viele sind mit Randnotizen oder sonstigen Markierungen versehen. In einem steckt noch ein vergessener Zettel mit einer handschriftlichen Anweisung für eine Hilfskraft: „S. 122 – Bitte 35x kopieren. Bibl. Angaben nicht vergessen! – Herzl. dankt, LB“. Manche Bücher tragen Widmungen und verraten Geschenkbände, zu Geburtstagen, bei Neuerscheinung eines Bandes oder einfach so. Mit jedem Buch sind Erinnerungen verbunden, ein jedes bedeutet etwas für den Besitzer.
 
Da ist etwa die durchgesehene und ergänzte Zweitauflage von „Die Stadt bei Stadler, Heym und Trakl“, 1988 im Erich Schmidt-Verlag erschienen. Die Erinnerungen weisen deutlich über den Band weit ins eigene Studium bei Heinz Rölleke Anfang bis Mitte der 1980er Jahre an der Bergischen Universität in Wuppertal zurück: Zu den regelmäßigen, aber immer neuen Lehrveranstaltungen gehörte ein Trakl-Hauptseminar. Ein Ort, wo textnahes Lesen und Lesedisziplin verpflichtend waren und dem literarischen Spiel mit Intertextualitäten detailliert nachgegangen wurde – eine Hinführung zu einer ‚Andacht zum Unbedeutenden‘ als Grundlage einer guten philologischen ‚Arbeit am Text‘ und eine Einführung in die dem jungen Studenten als hermetisch erscheinende Welt der ästhetischen Moderne comme il faut.
 
Der Band ist offensichtlich ein Geschenkexemplar; eine handschriftliche Widmung – wie meist mit Bleistift geschrieben – weist darauf hin: „Herrn L. Bluhm – für die Mitarbeit dankend und zum 25.IV.88 alles Gute anwünschend – Heinz Rölleke.“ Ein Geburtstagsgeschenk für den damals noch jungen wissenschaftlichen Mitarbeiter und ein Dank wohl für die Unterstützung bei der Durchsicht dieser Zweitauflage. Daß das Nachwort zur 2. Auflage ebenfalls mit einer Widmung schließt, einer gedruckten, diesmal an den Lehrer des Lehrers, schafft eine sehr schöne wissenschaftsgenealogische Verbindung: „Meinem verehrten akademischen Lehrer Wolfgang Binder (1916-1986), der die Arbeit angeregt hatte und in die seinerzeit von ihm betreute Reihe ‚Philologische Studien und Quellen‘ aufnahm, sei diese zweite Auflage in memoriam gewidmet. – Wuppertal, den 19. August 1987 – Heinz Rölleke“. – Wissenschaft ist schnelllebig und vergisst seine Kinder – zu Unrecht – leider oft allzu bald. So wird vielen der Name Wolfgang Binder heute wohl nicht mehr wirklich etwas sagen. Vielleicht merkt aber der eine oder andere meiner eigenen Schüler bei der Nennung des Namens auf – etwa wenn er bei Gelegenheit Röllekes Nachwort lesen sollte – und erinnert sich an die ‚Ahnengalerie‘, die er bei Abschluß seiner Dissertation vom eigenen Lehrer als Gedächtnisdokument erhalten hatte. Sie bietet ihm – oder ihr – die eigene wissenschaftliche ‚Ahnenreihe‘ von Jacob und Wilhelm Grimm über Karl Victor Müllenhoff und Wilhelm Scherer, Erich Schmidt, Hermann Schneider, Wolfgang Binder bis hin zu Heinz Rölleke und dem eigenen akademischen Lehrer mit Lebens- und wissenschaftlichen Kurzdaten: Ein Dokument zum Schmunzeln, zum Staunen, zur Freude – und ein Dokument der Verpflichtung.
 
Obwohl eher ein dünnes Bändchen, eigentlich eine Broschüre, verdient eine weitere Publikation im großen ‚Rölleke-Block‘ doch eine besondere Erwähnung. 1979 im B. Kühlen Verlag in Mönchengladbach an durchaus versteckter Stelle erschienen und nicht einmal 30 Druckseiten stark, ist „‚O wär’ ich nie geboren!‘“ eine meiner Lieblingslektüren aus dem Bereich der Wissenschaftsessayistik. Es handelt sich um die Wiedergabe eines Vortrags zum genannten Topos der Existenzverwünschung, der in seiner literaturgeschichtlichen Tradition von der Antike bis ins spätere 20. Jahrhundert nachverfolgt wird. „Meine Sammlung entsprechender Lesefrüchte“, heißt es an einer Stelle, „umfaßt inzwischen über 600 literarische Ausformungen der Sentenz, angefangen beim griechischen Dichter Theognis von Megara (6. Jahrhundert v. Chr.), Hiob und Jeremias im Alten Testament bis hin zu Thomas Mann, Heinrich Böll, Max Frisch und Uwe Johnson und dann weiter bis zum Trivial- und Kriminalroman unserer Tage […].“ Die Vorbemerkung des Bändchens verspricht: „Eine umfassende Monographie in Buchform über den Topos der Existenzverwünschung ist in Arbeit.“ Auf das Buch warte ich noch immer und ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß es noch erscheinen wird. Jedenfalls schaue ich – wie mancher andere, wie ich weiß, auch – bis heute nach Belegstellen. Und wann immer mir eine solche Lesefrucht vor die Füße fällt, sammle ich sie auf und schicke sie Heinz Rölleke zu. Doch allzu oft sind die Belege bereits verzeichnet. Gegenwärtig bereite ich etwa ein Seminar zu Angelus Silesius und seine epigrammatische Dichtung vor, was mit mancher Lektüre und anderer Wiederlektüre verbunden ist. Als ich in diesem Zuge an eher entlegener Stelle, nämlich in der „Sinnlichen Beschreibung der vier letzten Dinge“, und zwar im Teil „Das Jüngste Gerichte“, unerwartet auf den Topos stieß – und sogar zweimal –, bedeutete dies eine unerwartete Freude! Die Schrift des Barockdichters (und manchmal arg eifernden Gegenreformators) ‚Zu heilsamem Schrecken und Aufmunterung aller Menschen‘ ist eine wunderbar drastische Beschwörung von Höllenangst und Seelenpein: Da gibt es ein „Zeterschrein“, es gibt „Heul’n und Weinen“, man winselt und jammert und einer schreit:
 
„[…] Wär’ ich nie geborn /
Noch je geschaffen worden!
Wär’ ich in Mutterleib verlorn!
Könnt’ ich mich selbst ermorden!“
 
Die Beschwörung des ‚Jüngsten Gerichts‘ endet schließlich in der Passage:
 
„Kurz ist die Lust / kurz ist die Zeit /
Vergänglich diese Freuden /
Lang ist die Pein und Ewigkeit /
Beständig währt ihr Leiden.
O Ewigkeit / o Ewigkeit /
O ewig sein verloren!
O Last / o Unerträglichkeit!
O besser nie geboren!“
 
Die Fundfreude kühlte sich beim Blick in Heinz Röllekes kleine Schrift von 1979 dann aber schnell wieder ab: „Im 17. Jahrhundert“, liest man auf S. 23 eben schon, „läßt Angelus Silesius die Seelen in der Hölle jammern: ‚O wärn wir nie geborn!‘“ Und so ist es allzu oft, zumal es mehr als diesen einen Beitrag Heinz Röllekes zu diesem Topos der Existenzverwünschung gibt.
 
Das Augenmerk auf Sentenzen und andere Sprachformeln prägt Heinz Röllekes Werk bis heute – sein voluminöses und stetig wachsendes Literaturverzeichnis legt davon beredt Zeugnis ab. Nicht wenige seiner Schüler haben die Praxis übernommen, solche oder ähnliche Sprachformeln auch für sich selbst zu sammeln. Bei mir wurde es in Anlehnung an die Rölleke’sche Übung der Topos „auf verlorenem Posten“. Nach Jahrzehnten eigener Sammlung (die aber weniger als die genannten 600 Belege „o wär’ ich nie geboren“ eintrug), mündete die Sammeltätigkeit dann 2012 in einem Buch, „Auf verlorenem Posten“, im WVT-Verlag. In einem etwas launigen „Postskriptum“ zu diesem ‚Streifzug durch die Geschichte eines Sprachbildes‘ wird auf den Beginn der Sammeltätigkeit verwiesen, der mit den Nöten eines Literaturstudenten und seiner Abschlußarbeit über Ernst Jünger zusammenhing: „Durch die Ankündigung eines Wechsels in der Gutachterschaft ergab sich kurz vor Einreichen der Arbeit das Problem, dass der neue Erstgutachter, ein Editionsphilologe und Neopositivist, ein erkennbares Desinteresse am Thema wie an der Methodik der Arbeit zeigte. Da dieser […] hochverehrte Literaturlehrer, Heinz Rölleke, aber ein großes Faible für Motivgeschichten besaß und selbst eine kleine Geschichte der Existenzverwünschung, ‚O wär’ ich nie geboren!‘, verfasst hatte – Pflichtlektüre aller seiner Studierenden –, wurde die fertige Abschlussarbeit nun wenigstens noch mittels einiger Fußnoten mit hastig zusammengetragenen kleinen Motivgeschichten ‚aufgepeppt‘, die als ‚Blickfang‘ und ‚positivistische Reminiszenzen‘ fungieren sollten.“ Und tatsächlich hat eine dieser kleinen Motivgeschichten, eben die zum ‚Verlorenen Posten‘, die Aufmerksamkeit des Gutachters gewonnen. Auf seine Anregung hin wurde sie sogar zu einem kleinen Aufsatz ausgearbeitet, der eine der ersten eigenen Publikationen des damals noch jungen Germanisten werden sollte. Daß schließlich ein Buch daraus entstehen sollte, war weder geplant, noch absehbar. Dem früheren Gutachter gebührt Dank für Vorbild und wegweisende Impulse!
 
Wer das Gesamtwerk Heinz Röllekes kennt, wird kaum verwundert sein, daß ein nicht geringer Teil des ‚Rölleke-Blocks‘ im Bücherregal dem Themenfeld der Brüder Grimm und den „Kinder- und Hausmärchen“ verpflichtet ist. Wenn die dreibändige Reclam-Edition der ‚Ausgabe letzter Hand‘ mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm dabei besonders hervorgehoben wird, ist das forschungsgeschichtlich leicht zu begründen: Bis heute stellt sie die maßgebliche kritische Druckfassung der Erzählsammlung dar und ist Grundlage jedweder modernen Märchenforschung. Sie ist, mit geringfügigen Verbesserungen versehen, inzwischen in verschiedenen Neuauflagen und Ausstattungen auf dem Markt. Daß ich als Märchenforscher selbst aber noch immer vor allem mit einer Ausgabe von 1982 arbeite, deren Bände längst ziemlich zerfleddert sind, obwohl im Institutsbüro noch eine zweite, neuere steht, hat einen sehr persönlichen Grund: Es ist die Ausgabe, die ich in den frühen 1980er Jahren als Teilnehmer eines Seminars zu den „Kinder- und Hausmärchen“ erworben habe – als Seminargrundlage schlechterdings erwerben mußte. Aber natürlich spielt nicht nur Sentimentalität eine Rolle: Über die Jahre und Jahrzehnte sind derart viele handschriftliche Notizen, Markierungen, Einträge und Verweise sowie Einlagen hinzugekommen, daß diese Ausgabe als Arbeitsexemplar für die eigenen wissenschaftlichen KHM-Studien schlichtweg unersetzlich geworden ist. Die Einlagen – meist winzige, eng beschriebene Notizzettel – müßten an einem langen Winterwochenende einmal sortiert werden. Oft sind es einfach nur Hinweise mit Bezug auf einzelne Märchenerzählungen, etwa Lesefrüchte mit Märchenmotiven aus der mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Literatur, zum Beispiel aus Hartmanns „Iwein“ oder aus Predigten des Elsässers Johann Geiler von Kaysersberg. Als eigene kleine Kuriosität liegt auch ein zweifach gefaltetes maschinenschriftliches Schreiben Heinz Röllekes auf einem Wuppertaler Uni-Briefbogen an seinen damaligen Assistenten bei, datiert auf den 17. März 1994. Es enthält ein fröhlich-gelehrtes Spiel, das letztlich die Diskussion um Oralität und/oder Literalität der Grimm’schen Erzählsammlung, hier speziell des „König Drosselbart“, zum Gegenstand hat: „ein methodischer Test: In welcher Art Beeinflussungsrichtung steht Ihre KHM-Lieblingspassage zu folgendem Text?
 
Der größte Schatz aber in der Aarburg war des Ritters einzige Tochter … Ritter und Fürsten zogen weit und breit nach ihr hierbei … bewarben sich um ihre Minne, aber der war ihr zu fad, jener zu dreist, und der dritte hatte den Spleen …
 
Ich sage Ihnen die Lösung, wenn wir uns wiedersehen.“
 
Im dritten Band der von Heinz Rölleke herausgegebenen Reclam-Ausgabe, den Originalanmerkungen der Grimms, finden sich in meinem Exemplar – ziemlich unsystematisch – auch Hinweise auf handschriftliche Nachträge Jacob Grimms notiert, die vor vielen Jahren wohl bei irgend einer Archivarbeit aus einem Handexemplar ausgezogen worden sind. Den einen oder anderen Grimm-Nachtrag überlege ich immer wieder einmal im Rahmen einer kleinen Studie aufzugreifen, etwa den zu KHM 148: „falsch ist: zu Const. in der Kirche. Die Nürnb. Ausg. 1. 5,499 hat zu Const. in Kriechen.“ Die notwendigen Materialien warten in verschiedenen Ordnern – aber so viele freie Winterabende gibt es für einen in der Lehre stehenden Literaturprofessor leider nicht. Und wir leben eben nicht in jenen märchenhaften „alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat“ (KHM 1).
 
So mancher andere Band verdiente noch genannt zu werden, etwa die ‚Kritische Ausgabe‘ von Hofmannsthals „Jedermann“ aus dem S. Fischer Verlag – allerdings fehlt der entsprechende Band seltsamerweise in meinem Bestand; er ist weder im ‚Rölleke-Block‘, noch bei den Editionen, wo zwei Regalbretter eine schöne Auswahl aus der „Sämtliche Werke“-Ausgabe bieten. Auf dem Speicher muß es in irgendeinem Karton noch ein geheftetes Exemplar des Umbruchs geben. Im Regal links von meinem Schreibtisch vorhanden ist jedenfalls nur der bei Reclam erschienene Erläuterungsband von 1996; immerhin aber mit handschriftlicher Widmung zu gegebenem Anlaß: „Herrn PD Dr. Bluhm mit Glückwünschen zur Habilitation, 8.VII.96 – Heinz Rölleke“. – Eigentlich müßte im Rahmen dieser Revue auch eines der Bücher zu Else Lasker-Schüler genannt werden, zumal es sich bei der Autorin um meine Lieblingslyrikerin handelt. Doch verbinde ich mit den Editionen, an denen Heinz Rölleke als Herausgeber oder Bearbeiter beteiligt war, oft andere Namen stärker. Nicht zufällig zeigt die bei Artemis & Winkler herausgebrachte wunderbare Ausgabe des privaten Briefwechsels „Else Lasker-Schüler/Franz Marc – Mein lieber, wundervoller blauer Reiter“ auch keine handschriftliche Widmung des Herausgebers Rölleke, sondern eine der Mitherausgeberin Ulrike Marquardt: „Für Lothar als Dank dafür, daß er uns am 29.1.99 so zielsicher und alkoholfrei nach Neuß und zurück gefahren hat! – U.M., 3.2.99“ – Was auch immer der Anlaß dieser Fahrt zum Wohnort Heinz Röllekes gewesen sein mochte – es muß eine Festlichkeit gewesen sein, bei der zumindest einer ‚trocken‘ bleiben mußte.
 
Während meine eigenen Verfasser- und Herausgeberschaften an einem ganz anderen Ort stehen, in einem anderen Zimmer, sind doch auch einige Bücher aus diesem Bestand außer der Reihe dem ‚Rölleke-Block‘ beigestellt. Dazu gehören natürlich die gemeinsamen Veröffentlichungen, zwei Bände zu Redensarten und Märchen sowie ein Sonderband der Zeitschrift „Wirkendes Wort“ zu Thomas Mann. Die vielen Bände der Zeitschrift selbst stehen aus Platzgründen sowieso nur im Büro. Viel interessanter als Erinnerungsdokumente sind eh die Würdigungen, die der Schüler dem akademischen Lehrer im Laufe der Jahre dediziert hat oder an denen er beteiligt war und denen sich auch dieser Essay anschließt. An erster Stelle im Regal steht eine Sammlung mit dem barockisierenden Titel „Copia Eruditionis. / dasz ist: / würklicher Vorrath / gründtlicher Gelehrsambkeit / sive / Collectanea philologica / in honorem insign. / D. Henrici Roelleke / prof. phil. germ. univers. VVupp. / quinquaginta annorum die / VI Novembris MCMLXXXVI […]“. Es ist eine Schülergabe, die nicht veröffentlicht wurde, aber doch erkennbar schon wissenschaftlich profiliert ist. Die Namen der Beiträger sind mir sämtlich noch vertraut und erinnerungsnah, so fern die Zeit auch ist: Neben meinem eigenen Namen finde ich Achim Hölter, Andreas Meier, Karin Wilcke, Ulrike Marquardt, Marein von der Osten-Sacken, Beatrix Burghoff, Peter Gräser, Susanne Wiesner, Jutta Rißmann, Christoph Schmidt, Claudia Kniep – im Kern das damalige ‚Oberseminar‘, mit dem Heinz Rölleke regelmäßig kleinere und auch größere gemeinsame Wissenschaftsprojekte durchführte, die oft genug in Publikationen mündeten. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir das schöne Editionsprojekt zu Wilhelm Grimms Wiesbadener Kurtagebuch von 1833, das 1988 dann seinen Weg in Ludwig Deneckes „Brüder Grimm Gedenken“ fand. Das thematische Spektrum der Schülerschrift von 1986 ist weit: Von der mittelhochdeutschen Sprichwörtersammlung über ein Faust-Lustspiel zur Romantik und zur Klassischen Moderne, natürlich Grimmiana, etwas zu Tieck, zur Droste, zu Keller, zu Hofmannsthal und zu Thomas Mann, aber auch anderes mehr. Erkennbar ist ein eigenes Schwergewicht auf Editorischem. Manche der Beiträge sind später anderswo tatsächlich im Druck erschienen – ein Beleg für die wissenschaftliche Qualität dieser Schülerschrift sowie ein Beleg für die Lehrleistung des geehrten und verehrten Lehrers. Der Band ist nicht nur ein wissenschaftlicher Vorausblick, er ist vor allem ein Zeugnis für die enge Verbundenheit von Lehrer und Schülerschaft. Ein Vorwort leitet entsprechend ein: „Sehr geehrter Herr Professor, lieber Herr Rölleke! – Wenn wir Ihnen zur Feier Ihres fünfzigsten Geburtstags die vorliegende Aufsatzsammlung zueignen, so meinen wir dies nicht nur als Hommage an den gemeinsamen Hochschullehrer, sondern vor allem auch als Geste persönlicher Verbundenheit.“ Die Verbundenheit hat in den allermeisten Fällen bis heute fortgewirkt.
 
Neben dieser immerhin 243 Schreibmaschinenseiten starken Sammlung stehen im Regal dann auch einige ‚richtige‘ Sammelbände. Ein Jahrzehnt später hatten die langjährigen Mitarbeiter am Lehrstuhl Rölleke, Hölter und Bluhm, anläßlich seines 60. Geburtstags zu Ehren ihres Lehrers ein Kolloquium zum Thema „Romantik und Volksliteratur“ ausgerichtet. Es führte Kollegen und Schüler zum fachlichen Austausch mit Vorträgen und Diskussion zusammen und mündete 1999 in einem sehr ansehnlichen Sammelband, im Universitätsverlag Carl Winter. Der ‚Wunderhorn-Reiter‘ auf dem Cover signalisierte die Richtung, obwohl zur Liedersammlung selbst keine Studie angeboten wurde. Mir selbst ist dieser Band in meiner eigenen wissenschaftlichen Arbeit vor allem deshalb von Bedeutung geblieben, weil eine vom Bonner Literaturwissenschaftler Norbert Oellers verfaßte Abhandlung zu Goethes „Mährchen“ viele Jahre später meine eigene, in eine andere Richtung gehende Auseinandersetzung mit diesem wunderbaren Abschluß der „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ maßgeblich initiieren und befördern sollte. Mein persönlicher Beitrag zu diesem Geburtstagsband, eine Analyse des ‚Wissenschaftskriegs‘ zwischen den Brüdern Grimm und Friedrich Heinrich von der Hagen, hat dagegen außer einigen kleineren Ergänzungen in der eigenen nachfolgenden Forschungsarbeit keine wirkliche Fortsetzung mehr gefunden, wenn ich nicht die Stafette zu den Literaturstreiten der 1990er Jahren in diese Richtung deuten will. Den Weg in eine Buchform hat indes weder das eine, noch das andere Projekt gefunden.
 
Für die Herausgeber war der Sammelband zu Romantik und Volksliteratur in gewisser Hinsicht auch eine Art Probelauf für das eigentliche Zielprojekt, eine Festschrift für Heinz Rölleke zum 65. Geburtstag am 6. November 2001: Deren Titel „‚daß gepfleget werde der feste Buchstab‘“, Hölderlins Hymne „Patmos“ entliehen, war Programm der philologischen Beiträge, sollte vor allem aber auf die wissenschaftliche Ethik des Gewürdigten selbst verweisen. Im WVT-Verlag erschienen – wo ja auch die von Heinz Rölleke seit Jahren und Jahrzehnten bis heute mitherausgegebene germanistische Fachzeitschrift „Wirkendes Wort“ ihre Heimat hat –, faßt sie 36 Beiträge zusammen, die den Gesamtbereich der germanistischen und einer volkskundlichen Literaturwissenschaft von der Literatur des späten Mittelalters bis zu Hugo von Hofmannsthal, Georg Heym und Bertolt Brecht thematisieren. Außerdem enthält sie ein vollständiges Schriftenverzeichnis von Heinz Rölleke – jedenfalls bis 2001. Die Beiträge dieser mit 559 zuzüglich drei Seiten Vorwort insgesamt wirklich voluminösen Festschrift „korrespondieren“, wie eine Rezension in der „Zeitschrift für Germanistik“ 2003 zu recht hervorhob, „mit Forschungsfeldern Röllekes“ und legen in ihrer Breite Zeugnis von einem gelehrten Generalismus ab, wie man ihn sich eigentlich nur wünschen kann. Nicht zuletzt sind sie einer wissenschaftlichen Ethik verpflichtet, der philologischen Akribie, für die der Name Rölleke stand und steht.
 
Das dritte Buch in der Reihe, mit dem Titel „Produktive Rezeption“, darf in mehrfacher Hinsicht als eine Fortsetzung der voluminösen Festschrift angesehen werden. Es ist im selben Verlag erschienen, hat dieselben Herausgeber und es bietet im Anschluß an die Aufsätze als Fortschreibung einen 2. Teil zum Schriftenverzeichnis von Heinz Rölleke. Ursprünglich als kleine Festgabe zum 70. Geburtstag Heinz Röllekes geplant, ist das Büchlein mit Beiträgen von Freunden, Schülern und Kollegen zur Literatur und Kunst im 19., 20. und 21. Jahrhundert dann doch erst 2010 fertig geworden – gewissermaßen schon in Sichtweite des 75. Geburtstags. Berufliche Umbrüche bei den Initiatoren mit Universitätswechseln vom Ausland nach Deutschland und von Deutschland ins Ausland forderten ihren Tribut. Mit der Rezeption von Literatur und anderer Kunst in Literatur stand ein Aspekt im Vordergrund aller Beiträge, der wie kaum ein zweiter das Gesamtwerk Heinz Röllekes prägte und der noch die jüngsten Veröffentlichungen des am 6. November 2016 achtzig Jahre jungen Gelehrten auszeichnet. Als Vorwort der Freundesgabe fungiert eine „Zueignung“, die freundlich-ironisch an die von Goethe in seiner eigenen „Zueignung“ zum „Faust“ beschworenen „schwankenden Gestalten“, die vom ‚Dichterfürsten‘ aufgerufenen Erinnerungsschatten, anknüpft, um am Schluß wieder mit Goethe zu schließen: So mögen die Freunde und Kollegen, die sich zur Freundesgabe zusammengeschlossen hatten, in ihrer Läßlichkeit dem zu Ehrenden inzwischen vielleicht „schwankende Gestalten“ geworden sein: „Doch wo einzelne Gesellen / Zierlich miteinander streben, / Sich zum schönen Ganzen stellen, / Das ist Freude, das ist Leben.“
 
Den drei Büchern ist ein kleiner Ordner beigelegt, der eine lexikalische Würdigung in Druckform enthält: Auf Bitten der Redaktion hat der frühere Schüler 2004 einen Artikel „Rölleke“ für die „Enzyklopädie des Märchens“, das grundlegende Lexikon zur historischen Erzählforschung, verfaßt. Der Artikel ist kein Festbeitrag, sondern eine wissenschaftsgeschichtliche Einordnung. Und er ist ein Dokument dafür, daß Heinz Rölleke längst nicht mehr nur einer von vielen historischen Erzählforschern ist, sondern zu einem Markstein der Erzählforschung und in gewisser Hinsicht selbst zu ihrem Gegenstand geworden ist. Eine bemerkenswerte Ehrung der Redaktion und eine Freude für den Verfasser des Artikels. Dem Ordner liegt zudem ein Umschlag mit der handschriftlichen Aufschrift „Vortragsms. zu Heinz Rölleke“ bei. Der ist allerdings leer. Ich erinnere mich vage, zur Emeritierungsfeier des verehrten Lehrers eine Würdigung vorgetragen zu haben – der Text ist jedoch wohl verloren gegangen. Schade. Ich erinnere mich auch, mehr als einmal entsprechende Personalartikel für Zeitschriften aus dem Märchenbereich geschrieben zu haben – aber auch die sind nicht archiviert. Dafür liegt dem Ordner eine Kopie aus der seit Jahren gemeinsam herausgegebenen germanistischen Fachzeitschrift „Wirkendes Wort“ bei. Sie enthält meinen im zweiten Heft von 2015 veröffentlichten Artikel zur Sprachformel „Sie ist die erste nicht“ bei und vor Goethe. Die sentenzgeschichtliche Abhandlung ist Heinz Rölleke als dem „unbestrittene[n] Großmeister der Miszellaneik in der germanistischen Literaturwissenschaft“ gewidmet und schließt unmittelbar an dessen grundlegende Studie zum entsprechenden Goethe-Zitat an, die 1998 im „Euphorion“ erschienen war und 2009 im Rahmen einer Sammlung von Quellen und Studien Heinz Röllekes zu Goethes „Faust“ noch einmal nachgedruckt wurde. Die Sammlung mit dem Titel „‚Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist‘“ steht natürlich ebenfalls im Regal; sie lag vor einigen Semestern einem von mir veranstalteten „Faust“-Seminar zugrunde – mit Gewinn für die Studierenden wie für den Dozenten selbst.
 
Die Bücher im Regal links von meinem heimischen Schreibtisch sind Wissenschaftsdokumente, doch sind sie für mich auch Erinnerungsträger. Erinnerungen sind ganz allgemein Vergegenwärtigungen von etwas, das war oder eben so im eigenen Gedächtnis geblieben ist. Doch sind diese Vergegenwärtigungen in der Regel sehr persönliche Eindrücke, die als Mitteilungen nicht wirklich das vermitteln können, was sie dem Erinnernden tatsächlich sind. Aber das müssen sie auch nicht. Erinnerungen gewinnen vor allem dann Mitteilungswert für andere, wenn sie nicht nur bunte Bilder evozieren oder Archivzeugnisse oder sonst wie museale Überbleibsel als Ausstellungsstücke präsentieren, sondern wenn sie das Erinnerte als Bausteine in einer stetig fortschreitenden Architektur offenlegen. Für die Bücher im ‚Rölleke-Block‘ gilt das unbedingt! Sie waren und sind bemerkenswerte, unverzichtbare Komponenten im großen Bauwerk der Wissenschaft und für den einen oder anderen Pfeiler sogar von tragender Bedeutung. Ich bin sicher – nein, ich weiß –, daß der Bestand in diesem Regalteil auch über den 80. Geburtstag des Geehrten am 6. November 2016 hinaus weiter anwachsen und der Geehrte noch so manchen schätzenswerten Baustein liefern wird: Ad multos annos!
 
Lothar Bluhm