Vom Neckar zum Rhein?

Zur Quelle eines bekannten Volksliedes

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Vom Neckar zum Rhein?
 
Zur Quelle eines bekannten Volksliedes
 
Von Heinz Rölleke
 
 
                        Bald gras ich am Neckar,
                        Bald gras ich am Rhein,
 
so lautet der heute immer noch bekannte Eingang eines älteren Volksliedes, das im Druck erstmals 1808 in der berühmten Liedersammlung von Achim von Arnim und Clemens Brentano „Des Knaben Wunderhorn“ erschienen war. Die ebenfalls immer noch lebendige Schnaderhüpferl-Melodie ist seit 1830 belegt.
 
Zur Entstehung des achtstrophigen Liedes haben Erk und Böhme in ihrem Standardwerk „Deutscher Liederhort“ (2. Band, Leipzig 1893, S. 788 f.) angemerkt: „“Blos Str. 1 und 2 sind südd. Volksgut und hervorgegangen aus dem älteren, natürlicheren und noch heute gesungenen Tanzreime: 'Bald gras ich am Acker, bald gras ich am Rain'.“
 
Man fragt sich, wie die Bezeichnungen „Acker“ und „(Feld)Rain“, wo die Hirten in der Tat ihre Herden (nach und vor der Getreideernte) im Herbst und im Sommer zum 'Grasen' (Gras fressen) führten, zu den ähnlich klingenden Flussnamen „Neckar“ und „Rhein“ mutierten. Da die „Wunderhorn“-Sammlung in Heidelberg „am Neckar“ entstanden ist, nahm man an, Brentano habe wie in seine eigenen Dichtungen und in manche Liedern der Sammlung auch hier Lokalkolorit eingebracht und in seiner bekannten sprachspielerischen Manier die alten Bezeichnungen ein wenig verfremdet um sie damit auf die Heimat der romantischen Liedersammlung beziehen zu können.
 
Es hat sich indes bei Sichtung der für die Sammlung eingegangenen handschriftlichen Liedaufzeichnungen gezeigt, dass sich darunter zwar eine zweistrophige Fassung mit den Lesarten „Aeckerl“ und „Reihn“ befindet, dass dieses Manuskript jedoch nicht für die „Wunderhorn“-Redaktion herangezogen wurde; vielmehr liegt eine andere achtstrophige Fassung vor, die insgesamt fast unverändert und nur um eine Überschrift ergänzt („Rheinischer Bundesring“) in der Anthologie von 1808 erschien. Einsenderin war die namentlich zu diesem Text im „Wunderhorn“ genannte, von Brentano besonders geschätzte Schriftstellerin Auguste von Pattberg (1769-1850); sie lebte seinerzeit in Neckarelz. In ihren zahlreichen Einsendungen für das „Wunderhorn“ halten sich poetische Überarbeitungen nach volksläufigen Motiven und relativ getreue Aufzeichnungen mündlicher Überlieferungen im Badischen Neckarelz ungefähr das Gleichgewicht. So ist für das berühmt gewordene „Neckar“-Lied zu vermerken, dass Frau von Pattberg, die auch sonst eigene Dichtungen veröffentlichte, hier das seinerzeit im Schwange befindliche Schnaderhüpferl „Bald gars ich am Acker ...“ als Reverenz an ihre Wirkungstätte mit der Berufung der ihre heimatliche Landschaft prägenden Flüsse umgedichtet hat. Dabei kam der belesenen, hochgebildeten Frau hilfsweise zustatten, dass sie wohl ein schon drei Jahre zuvor im „Wunderhorn“ veröffentlichtes Schäfer-Gedicht des Barockdichters Martin Opitz (1597-1639) aus dem Jahr 1624 kannte: „Ist irgend zu erfragen/ Ein Schäfer um den Rhein ...“. Hier war der romantische Strom in einem dem Volkslied vielfach verwandten Kunstlied anzutreffen. Die 7. Strophe des Opitz'schen Originalgedichts lautet:
 
                        So habe ich auch darneben
                        Ich habe was bey mir
                        Daß ich nicht wolte geben
                        Umb alles Vieh allhier
                        Daß an des Neckers Rande
                        Im grünen Grase geht ...       
 
Diese Strophe war im „Wundrhorn“-Abdruck von Arnim stark verändert worden:
 
                        Die Schaafe, die am Flusse
                        Im tiefsten Grase stehn …
 
Hier ist also vom „Necker“ keine Rede, bei aber Opitz sind die Ingredienzien „Schäfer“, „Rhein“, „Neckar“, „Gras(en)“ sämtlich vorgegeben, aus denen Auguste von Pattberg ein nunmehr nicht nur volksliedhaft klingendes, sondern ein seither als 'echtes' Volkslied bekanntes Lied gedichtet hat.
 
Der von den „Wundehorn“-Herausgebern dem Text vorangestellte Titel „Rheinischer Bundesring“ hat weder mit dem alten Volkslied noch mit der Dichtung Auguste von Pattbergs zu tun; er ist eine seinerzeit aktuelle satirische Anspielung auf den im Juli 1806 unter dem Einfluss Napoleons gegründeten „Rheinbund“, in dem sich 16 deutsche Fürsten zusammengeschlossen und sich formell vom Reich losgesagt hatten; der Bund bestand bis 1813.
 
Die berühmteste Vertonung schuf Gustav Mahler 1905 in der irrigen Meinung, hier einen unverfälschten alten Volksliedtext vor sich zu haben – dem versuchte er auch durch die neue Titelgebung „Rheinlegendchen“ Rechnung zu tragen. Mit seiner der Literatur entnommenen Gattungsbezeichnung „Legende“ ist auf die Strophen 3 bis 5 der Pattberg'schen Dichtung angespielt, wie sie das „Wunderhorn“ bietet: Es geht um das antike Sagenmotiv vom Ring des Polykrates, zu dessen bekanntesten Gestaltungen Friedrich Schillers große Ballade von 1797 zählt, das aber auch in vielen Legenden begegnet, zum Beispiel in der mittelhochdeutschen Verserzählung „Gregorius“ des Hartmann von Aue vom Ausgang des 12. Jahrhunderts oder in dessen ironisierender Umformung in dem späten Thomas Mann-Roman „Der Erwählte“ aus dem Jahr 1951.
 
Hartmann von Aue, Marin Opitz, Clemens Brentano, Achim von Arnim, Auguste von Pattberg, Gustav Mahler, Thomas Mann – wahrhaft eindrucksvolle Namen aus neun Jahrhunderten, die sich neben vielen andern um das schlichte „Wunderhorn“-Lied von Neckar und Rhein und vom Ring im Fischbauch gruppieren lassen!