Ein Leitfaden für den Literatur-Flaneur in Münster

"Gelehrtes Münster - und rundum"

von Jörg Aufenanger

„Gelehrtes Münster“
und rundum


Mit den literarischen Stadtplänen des Verlags Jena 1800 in der Hand konnte man bisher schon durch London, Berlin, Petersburg und Paris entlang der Dichterhäuser dieser Metropolen flanieren. Nun also auch durch eine Provinzstadt, liegt doch druckfrisch der Stadtplan der westfälischen Metropole vor: „Gelehrtes Münster“ mit dem Zusatz: „und Rundum“. Kann es denn sein, daß die Stadt an der Aa ein Elysium der Dichter und Denker ist ? - Immerhin 88 Schriftsteller, Philosophen und Theologen sind mit Wohn -und Wirkungsstätten so exakt verzeichnet, daß man ihnen Straßen- und Hausgenau folgen kann, sowohl mit einem historischen als auch einem aktuellen Plan.

Gut, von Annette von Droste-Hülshoff ist allseits bekannt, daß sie in und bei Münster aufgewachsen ist und gelebt hat, indes zu befreiter Dichtung erst fand, als sie, wie der Kommentarteil des Stadtplans meint, die westfälische Enge von Kirche, Küche, Kinder verlassen habe, und in Meersburg am Bodensee das schwäbische Meer vor Augen hatte.
Nur wer war noch in Münster? Man erfährt Erstaunliches.

Der Theologe Fabio Chigi, der spätere Papst Alexander der VII., schrieb hier nicht nur ein Jesuitendrama, das 1649 in der Petrikirche aufgeführt wurde, sondern in lateinischer Sprache auch: „De Pluviis Monasteris urbis“, über Münster als „Heimat des Regens“. Überhaupt die Päpste: Johannes Paul II. war 1987 da, und auch Benedikt XVI. lehrte als Joseph Ratzinger am Seminar für Dogmengeschichte drei Jahre, wohnte in der Annette-Allee 42 b, wo er im Garten des Hauses die Studenten zu Speis, Trank und Disput versammelte oder von dort mit dem Fahrrad durch die Stadt aufbrach.
Doch nicht genug der Theologen, die das geistige Leben der Stadt so stark geprägt haben: Natürlich Bischof Clemens August Graf von Galen, der „als Löwe von Münster“ in St. Lamberti gegen die Nazis predigte. Martin Niemöller absolvierte sein Vikariat an der Apostelkirche, Karl Barth entwarf hier seine kirchliche Dogmatik. Edith Stein kam 1931 als Philosophiedozentin an die Universität und entschied sich im April 1933 nach dreizehnstündigem Gebet in St. Ludgeri zu konvertieren und den Karmeliterinnen beizutreten, was sie aber auch nicht vor der Deportation nach Auschwitz rettete.

Selbst die Philosophie ist in Münster geistlich. Joseph Pieper entwarf eine von Augustinus geprägte Anthropologie, seine eigene Menschenkunde sagte ihm, daß er sein Land - Westfalen - nie verlassen könne. Der Bogen der Philosophen, die in Münster zeitweise gedacht haben, reicht von Johann Georg Hamann, der dort auch gestorben ist, über Joachim Ritter zu Hans Blumenberg. Der wurde gar von der Polizei kurzzeitig festgenommen, als er des nachts mit einer Taschenlampe in der Bibliothek des eigenen Instituts ein Buch suchte. Auch solche Anekdoten fehlen nicht im Kommentarteil des Plans, in dem jedem Denker und Dichter eine Seite gewidmet ist.
Doch welche Dichter fanden Heimat in der Stadt am Aasee? August Stramm, der mit expressionistischen Gedichten und dem antiklerikalen Drama „Sancta Susanna“ gar Skandal machte, ward hier geboren, verließ aber bald die Stadt, um in die Berliner Boheme einzutauchen, bevor er im ersten Weltkrieg an der russischen Front starb.
Auch der Dichter Peter Hille suchte nach dem Abitur in Münster den Weg ins Boheme-Berlin, war eine der schillerndsten Figuren, starb auf einer Parkbank der Großstadt. Hermann Löns hingegen träumte in Münster viele Jahre lang von der Heide und der Natur, bewohnte ein Haus am Aasee, schrieb in „Appels Altbiergarten“ von der Münsteraner Luft, dem Duft von Weihrauch und Backöl und dem behäbigen Leben, dennoch fiel er an der russischen Front.
Auch kuriose und nur regional bekannte Personen finden sich, so die Schriftstellerin Clara Ratzka, die sich in ihrer Jugend auf dem Domplatz gern mit Jungens prügelte, Frauenrechtlerin wurde, mit dem Roman „Im Zeichen der Jungfrauen“ in Münster Skandal machte, bevor sie durch die Welt reiste und ihrem Leben 1928 in Berlin ein Ende setzte.

Diese literarischen Stadtpläne aus dem „Verlag Jena 1800“ sind ein geniales Verlagsprojekt. In ihnen erfährt man nicht nur viel Neues auf oft amüsante Weise, sondern mit ihnen in der Tasche verpaßt der Literaturflaneur keinen literarisch bedeutsamen Ort, ob in der großen Welt von Paris und London oder der von Münster.

© Jörg Aufenanger  - erste Rundfunk-Veröffentlichung im WDR 3 - "Mosaik" - erste Online-Veröffentlichung in den Musenblättern 2008

Jörg W. Rademacher und Christian Steinhagen
Gelehrtes Münster - 88 Schriftsteller, Philosophen und Theologen

Verlag Jena 1800 - Broschüre mit Plan
ISBN 3-931911-32-2
14,80 €
Weitere Informationen unter :  www.jena1800.de

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