Venedig im Winter

Eine Liebeserklärung

von Frank Becker

Foto © Frank Becker
Venedig im Winter

Eine Liebeserklärung
 
Wer je seinen Fuß auf den Boden der Serenissima gesetzt und dieses einzigartige, seit dem 6. Jahrhundert auf hundert Inseln und Inselchen und ungezählten Stelzen im Morast und Brackwasser der Bucht vor Mestre errichtete Gebilde gesehen hat, ist ihm verfallen. Das ging Friedrich Nietzsche, R.M. Rilke und Thomas Mann so - dem Bann dieses wunderbaren Traumgebildes, das auf der Welt einmalig ist, konnten sich Lord Byron, Richard Wagner, Marcel Proust, William Turner, Auguste Renoir und ungezählte andere Maler und Dichter nicht entziehen. Millionen von Touristen und ungezählte Liebespaare tun es ihnen jährlich nach – überwiegend im Frühling und Sommer – und besuchen die Stadt Canalettos, Guardis und Tiepolos, Casanovas und Goldonis, um ihren Duft zu atmen. Im Dämmer der Gassen, auf den 400 Brücken über 150 Kanälen, den stillen Plätzen abseits der Piazetta und in den kleinen Bars, Bacaris und „Caffés“ lassen sie sich in ihren Zauber einhüllen, im Versuch, das unlösbare Geheimnis ihres Charmes zu ergründen.
 
Doch Venedig hat auch besonders im Herbst und im Winter seinen ganz besonderen Reiz, wenn es stiller wird, früh dunkelt, die Zahl der Reisenden abnimmt und manche der Gondeln mit dem stolzen Ferro am Bug unter einer kleinen Schneehaube träumen. In kalten Wintern friert sogar die Lagune zu, wie es Ende des 18. Jahrhunderts ein Schüler Francesco Battagliolis auf einem Gemälde zeigt, und man kann das Festland zu Fuß erreichen. Die Zeit von Kälte und Nebel regt Autoren nicht minder an, als das Flimmern der Sommerhitze. Patricia Highsmith lässt ihren Kriminalroman „Venedig kann sehr kalt sein“ in der winterlichen Lagunenstadt spielen und Donna Leon, der wir den Commissario Brunetti in ihren mittlerweile 18 Venedig-Romanen verdanken (der 19. ist vom Diogenes Verlag bereits für 2011 angekündigt), führt auf der Suche nach den Tätern auch durch die klirrende Kälte der Calle, Rive, Ponte und Fondamente. Richard Wagner vollendete im venezianischen Winter 1858/59 den zweiten Akt seiner Oper Tristan und Isolde – 24 Jahre später kehrt er, wieder im Winter, dorthin zurück und stirbt am 13. Februar 1883 im Palazzo Vendramin.

Foto © Frank Becker
 
In der morbiden Stimmung der kalten Jahreszeit hat auch Robert Browning am 12. Dezember 1889 seinen letzten Seufzer getan, Rilke hat die „Eisige Ruh“ bedichtet und Joseph Brodsky reist seit 1972 jedes Jahr nach Venedig, wohlgemerkt im Winter, wenn die Luft klar ist und nachts „König Nebel“ die Stadt einhüllt. Es ist fast eine Haßliebe, doch er würde niemals im Sommer hinfahren, nicht einmal, wenn man mir ein Gewehr auf die Brust setzte". Ich habe Venedig im glühenden Sommer und im frostigen Winter erlebt und kann mit allen jenen aus vollem Herzen meiner Liebe Ausdruck geben: dieser wunderbare Ort mit dem geflügelten Löwen des Evangelisten Markus als Wappentier ist zu jeder Jahreszeit und in jedem Licht auf Schritt und Tritt beglückend. So wie Brodsky habe ich den klaren blauen Himmel und die wärmende Sonne über verschneiten Brücken und Gondeln gesehen, mich bei hereinbrechender Nachtkälte in die Wärme des Bacari „Al Portego“ mit seinem soliden Essen und wunderbaren Pinot Grigio vom Faß geflüchtet und es wie er genossen, keine mit Shorts bekleideten Herden" meinen Weg kreuzen zu sehen. Venedig hat für seinen Gast immer ein freundliches Lächeln – vielleicht sogar besonders im Winter.


Foto © Frank Becker