Französisches Kino auf höchstem Niveau

„Alles was kommt“ von Mia Hansen-Løve

von Renate Wagner

Alles was kommt
(L’avenir - Frankreich – 2016)

Drehbuch und Regie: Mia Hansen-Løve
Mit: Isabelle Huppert, Roman Kolinka, André Marcon, Édith Scob u.a.
 
Es schadet wahrlich nichts, eine besondere Hauptdarstellerin zu haben. Bisher konnte die französische Regisseurin Mia Hansen-Løve mit ihren Filmen außerhalb von Fachkreisen keine große Aufmerksamkeit erregen. Mit Isabelle Huppert in der Hauptrolle erntete sie jedoch für „Alles was kommt“ („L’avenir“) heuer bei den 66. Internationalen Filmfestspielen Berlin den Silbernen Bären für die Beste Regie – und das mehr als verdient. Wobei die Regisseurin sich auch das Drehbuch schrieb und dafür sorgte, in keinerlei Klischeefalle zu gehen – außer ganz am Ende. Aber sei’s drum, wenn sie davor so viel richtig gemacht hat.
Man ist erstaunt: ein Film für Erwachsene. Er fordert uns sogar ein wenig heraus, denn Nathalie, die Zentralfigur der Geschichte, lehrt Philosophie, und man darf ihr da auch in Schulstunden zuhören, wie sie ihre jungen Schüler auf Denkwege führt. Der Gatte ist in derselben Branche, und wenn er – nehmen wir es vorweg – den gemeinsamen Haushalt verläßt, sorgt er sich nicht um den Fernseher oder irgendwelche technische Geräte, sondern um Schopenhauers „Die Welt als Wille und Vorstellung“, wo ist das Buch nur hingeraten? Mia Hansen-Løve hat keine Mühe, uns Leute mit Niveau hinzustellen.
 
Und es scheint auch eine so weit gute Ehe, das heißt, sie funktioniert so nebeneinander in der gemeinsamen Wohnung, man fragt einander, was der andere heute unterrichtet hat, routinierte Anteilnahme unter Paaren. Gelegentlich kommen die erwachsenen Kinder zum Essen. Und Nathalie hat das besondere Problem, das gerade gescheite ältere Frauen so oft trifft – die Unfähigkeit, sich von einer alten Mutter abzunabeln, die mit allen Künsten des Psychoterrors Beachtung verlangt. Das passiert zu oft im Leben, als das man für übertrieben halten könnte, wie Edith Scob eine Tochter in Trab hält, die sie durchschaut und sich dennoch nicht helfen kann. Bis zum Ende, das dann doch traurig ist.
Traurig auch, daß Gatte Heinz (André Marcon glaubt man den Professor und den alten Mann, der in die Falle einer jungen Frau – von der man nichts zu sehen bekommt – tappt) dann doch weggeht. Traurig auch, daß der Verlag die Philosophiebücher, die Nathalie veröffentlicht hat, plötzlich für zu trocken und unzeitgemäß hält und sie aus dem Vertrag schubst. Auf einmal ist nichts mehr, wie es war.
 
Und wie Isabelle Huppert als Nathalie damit umgeht, nämlich intelligent und ohne die geringsten Szenen zu produzieren, auf die ein schlechtes Drehbuch nie verzichten würde, ist phänomenal. Und nochmals Dank an Drehbuchautorin / Regisseurin, denn sie bringt durchaus einen jungen Mann ins Spiel, ihren ehemaligen Schüler Fabien (Roman Kolinka), der nun am Land in einer Kommune alternative Lebensformen (sinnigerweise mit einer Menge Kollegen aus Deutschland) versucht.
Nathalie besucht ihn dort – aber nein, keine Romanze, nicht die wohlfeile Wendung, daß sie mit dem jungen Mann ins Bett geht und dann noch einmal enttäuscht wird. Sie tauscht sich einfach weiter geistig mit ihrer Umwelt aus. Und kein Zweifel, daß ihre Intelligenz und ihr Beruf ihr helfen, die Situationen, die eine andere Frau völlig aus der Bahn werfen würde, zu meistern… Nur, hier ist der Ort einzuwerfen, wo die Regisseurin ausgerutscht ist: Wenn das Ende daraus besteht, daß Nathalie ihr Enkelkind in den Armen hält. So schlicht hätte es nicht sein müssen, der allzu wohlfeile Oma-Trost für ältere Frauen – auf dem Sofa, mit einem Buch, hätte sie mehr überzeugt. Auf jeden Fall aber kommt Nathalie mit ihrem neuen Leben zurecht.
Vieles ist – die Machart des Films ist reich – eingestreut, aber ohne Zeigefinger-Absicht: streikende Studenten, aber nicht, damit der Film um jeden Preis „aktuell“ sei; ein Schubert-Lied, das wiederkehrt („Mitten im Schimmer der spiegelnden Wellen gleitet wie Schwäne, der wankende Kahn“), aber nicht, um sentimental zu sein oder platte Bezüge herzustellen über das schwankende Leben; fast wie nebenbei die Idee, daß man sich von einem Garten im Sommerhaus in der Bretagne schwerer trennt als von einem Menschen, aber nicht um grausam zu sein.
 
Soll der Film uns sagen, daß wir uns besser nicht allzu behaglich in unserem Leben einrichten? Daß die Katastrophen wie Tod, Trennung, Ausrangiertwerden mit dem Alter auf jeden Fall kommen und man sich besser darauf einstellt, all dem ins Auge zu blicken? So tapfer und unsentimental wie die Huppert wird das nicht jede/r schaffen, aber es wäre angebracht, sich hier ein Vorbild zu nehmen, wenn es in dieser schrecklichen Welt noch ein Restchen Würde geben soll. Und, apropos – nach so unendlich vielen Klischeefilmen (von „Ziemlich beste Freunde“ bis „Monsieur Claude“) ist das hier endlich wieder einmal französisches Kino auf seinem höchsten Niveau.
 
 
Renate Wagner