Es tut sehr weh...

Saphia Azzeddine – „Bilqiss“

von Frank Becker

Es tut sehr weh...
 
Ermahne! Du bist nur ein Ermahner!.
Und Du hast keine Macht über sie.
(Sure 88, Vers 21)
 
Saphia Azzeddine hat den wahrscheinlich klügsten zur Zeit zu findenden Roman über das Thema „Islam“ und dessen Begleiterscheinungen Hybris der Männer und Unterwerfung der Frauen geschrieben: „Bilqiss“.
 
Die Geschichte: die schöne, junge Witwe Bilqiss hat sich nach Ansicht der Gemeinde ihres Dorfes (die Nation bleibt ungenannt, könnte aber Afghanistan oder der Irak sein – oder demnächst, wenn der türkische Autokrat Recep Tayyip Erdogan in seinem Land weiter so wütet, auch die Türkei) todeswürdig versündigt, als sie eines Morgens anstelle des betrunkenen Muezzin zum Morgengebet gerufen, zu Unrecht den Adhan deklamiert hat. Zudem hat sie die Ungeheuerlichkeit begangen, den Text in zeitgemäßer und korantreuer Variante zu interpretieren. Daß sie sich vor langer Zeit hat fotografieren lassen, Literatur und Makeup besitzt, intelligent und überhaupt eine Frau, zumal eine alleinstehende und daher nutzlose ist, untermauert nur noch ihre Verworfenheit. Bilqiss wird eingekerkert und vor ein islamisches Gericht gestellt.
Saphia Azzeddine setzt hier an – vor Gericht und mit der intelligenten Argumentation „der Frau“ gegen die Selbstherrlichkeit der Männer im Allgemeinen und die Anmaßung des islamischen Richters im Besonderen. Bilqiss nämlich ist im Gegensatz zu vielen Geschlechtsgenossinnen nicht nur des Lesens und der Literatur kundig, sie hat auch den Koran gelesen (schon wieder ein Vergehen) und kann anhand von Zitaten die richterlichen Vorwürfe und Beschlüsse, ja sogar die angedrohte Strafe der Steinigung ad absurdum führen. Daß sie nicht gehört wird, liegt auf der Hand. Daß aber der Richter ihrer Klugheit und Schönheit erliegt, ist eine andere Sache.
 
Nun kommt auch noch eine amerikanische Journalistin ins Spiel, die vom Leben und Erfolg verwöhnte Leandra Hersham, ein Gegenentwurf zu Bilqiss, die von dem Aufsehen erregenden Prozeß erfahren hat, in das islamische Land reist und sich für die Eingekerkerte einsetzen will. Wie es ihr dort ergeht, was für Gespräche sie mit den gastgebenden Männern und Frauen führt, welchen geistigen Wandel sie unter der freiwillig angelegten Burka an sich erlebt und wie sich die geistige Auseinandersetzung mit Bilqiss entwickelt ist Zeile für Zeile ungemein spannend. Saphia Azzeddine wendet den Kunstgriff an, jede(n) der Protagonisten in eigenen Kapiteln ihre/seine Sicht schildern zu lassen. Der Leser wird zum Beobachter, der ohne eingreifen zu können die steigende Spannung fast körperlich empfindet.
Kern sind neben den kritischen Selbstreflexionen aller, also Bilqiss´, des Richters, der Journalistin, die pointierten, entlarvenden, oft rücksichtslosen Dialoge, in denen jede(r) der Beteiligten seine eigene Unzulänglichkeit erfährt, gegenseitige Vorurteile ausgespielt und decouvriert werden, aber auch zunehmend der Irrweg des von Männern radikal ausgelebten frauen- und bildungsfeindlichen Islam, der Verschleierung, des brutalen Auspeitschens von Frauen und der perversen Strafe der Steinigung, der Verbots vom Musik, Bildern, Literatur und Lachen offengelegt wird. Saphia Azzeddine macht unmißverständlich deutlich, daß der heutige radikale Islam ein grausamer Rückfall in die Zeit vor dem 13. Jahrhundert ist, bevor der Islam ein liberaler Kulturträger mit herrlicher Kunst, Architektur und Literatur war. Und sie läßt keinen Zweifel daran, daß all diesen Auswüchsen die Angst der muslimischen Männer vor dem Geschlecht der Frau, ihre eigene verschwitzte Geilheit und Verlogenheit zugrunde liegt.
 
Es ist ein wichtiger Roman – deshalb sollten Sie ihn unbedingt lesen, um Bilqiss´ kluge Argumentationen im Wortlaut zu erleben, zu erfahren, ob und evtl. wie es zur im Grunde unvermeidlichen Steinigung kommt, ob Miss Hersham erfolgreich oder der verzweifelt zwischen Allah, dem Propheten und seiner Neigung zu Bilqiss geschüttelte Richter gnädig war – oder Bilqiss selbst durch die angebotene Unterwerfung dem in seinen grausamen Einzelheiten geschilderten Steinigungs-Tod entgeht.
Ein aufregendes, mitnehmendes, erschütterndes und doch mit Humor begabtes Buch, mit seinen nur 172 Seiten ein überschaubares Lese-Erlebnis. Eine dringende Empfehlung der Musenblätter.
 
„Versuchen Sie nicht, unsere Liebe zu gewinnen,
wir haben nicht die Kraft dazu.“
 
Saphia Azzeddine – „Bilqiss“
© 2016 Verlag Klaus Wagenbach, 172 Seiten, gebunden, Schutzumschlag – ISBN 978-3-8031-3281-9
20,00 € / eBook 17,99 €
 
Weitere Informationen: www.wagenbach.de