Der alte Mann 11

von Erwin Grosche

Der alte Mann 11
 
Der alte Mann ging mit seinem Hund spazieren. Die Temperaturen waren unter Null gefallen. Er war froh, daß er Handschuhe trug. Reif lag auf dem Gras und funkelte in der aufgehenden Sonne. Der Hund bellte und tobte ausgelassen über die Fläche, als mochte er das Kitzeln an den Pfoten. Der alte Mann sah eine Frau, die über den Fußballplatz lief und direkt auf ihn zukam. Sein Hund lief ihr entgegen wurde durchgestreichelt.
Irgendwie schien er immer zu wissen, wer ihn mochte und wer nicht. „Der Hund gehört mir“, sagte er, als wollte er sich mit dieser Feststellung in die Zweisamkeit drängeln.
„Er riecht mein Pferd“, sagte sie. Erst jetzt fiel ihm auf, daß sie Reiterhose und Stiefel unter ihrem braunen Mantel trug.
Sie gefiel ihm. Natürlich mag jeder Hundebesitzer den Menschen, der seinen Hund streichelt, aber es war auch ihre Ruhe, die sie ausstrahlte. Sie schaute ihn skeptisch an, als spürte sie, daß er gerade sie musterte.
„Wir haben auch einen Hund“, sagte sie. „Er ist am Wochenende bei meinem Mann.“
Sie schaute ihn an. Es war so kalt, daß er ihren Atem sehen konnte. Der Fußballplatz erstrahlte in der Sonne wie ein Eislaufstadion. Der Himmel wurde nun blau, und Wolken verwirrten mit kaum erkennbaren Bilderrätseln. Sie hatte braune Augen und obwohl sie eine Bommelmütze trug, konnte er ihre hellroten Haare erkennen.
„Es ist schön, daß es wieder Bommelmützen gibt“, sagte er.
„Sie gehört meiner Tochter“, sagte sie fast entschuldigend. „Ich bin froh, daß ich sie im Auto gefunden habe.“
Der alte Mann nickte. Er mußte ohne Mütze rote Ohren bekommen haben. Konnten Ohren bei starker Kälte abfallen? Der alte Mann war erstaunt, daß er diese Frau so anziehend fand. Er suchte nach einem Gesprächsthema, welches sie noch länger bei ihm verweilen ließ. Sein Hund war inzwischen zu dem Baum gelaufen, der alle seine gelben Blätter verloren hatte und kam mit einem Blatt wieder, welches er ihr vor die Füße legte.
Der alte Mann nickte. Er konnte so viel von seinem Hund lernen. Einer Frau machte man Geschenke, sonst ging sie weiter. Er erinnerte sich daran, wie schön er sich 1979 gefunden hatte. Da war alles einfacher. Warum hatten sie sich damals nicht getroffen?
„Müssen sie auch in diese Richtung?“, unterbrach sie seine Gedanken. Sie zeigte zu den Steinbrüchen. Er nickte und ging mit, obwohl er eigentlich nicht in diese Richtung mußte.
Der alte Mann überlegte, durfte man in seinem Alter noch einer Frau sagen, daß man sie mochte? Verlor man ihre Zuneigung, wenn man nicht bereit war etwas dafür zu tun? Er seufzte so laut auf, daß sie ihn erstaunt ansah. Hatte er in seinem Alter noch die Kraft, sich einen Korb zu holen? Sie mußte bestimmt jünger sein als er, obwohl er Frauen, die er schön fand, immer als jünger einschätzte.
Ist das Alter nicht egal, wenn man sich verstand? Sie erzählte von Ihrem Pferd und sie hätte auch von ihrem Föhn, ihrer Zahnbürste und ihrem Sofa erzählen können. Er hörte ihr zu und konnte nicht genug davon bekommen, wenn sie ihn anschaute.
„Ich mag sie“, stellte er erstaunt fest. Er überlegte, ob ihr verraten sollte, daß sie sein Herz erobert hatte. Er könnte schwärmen. Sie würde ihn bestimmt ernster nehmen, wenn sie hören würde, daß er sie mehr mögen würde als, zum Beispiel, seinen Steuerberater, den er schon ziemlich gerne hatte. Sie würde ihn sicherlich mehr schätzen, wenn sie erführe, daß er sie mehr anhimmelte als seine Friseurin Uta, die ihn immer im Südring die Haare schnitt. Er mochte sie sogar lieber als den Dalai Lama, und jeden, den er heute getroffen hatte. War das nichts? Er setze gerade an, ihr seine Zuneigung zu gestehen, als ihn plötzlich die Vorstellung abhielt, was danach passieren würde. Was war, wenn sie mit ihm bei Orlando im Il Postino essen wollte? Wahrscheinlich durften dort keine Hunde rein. Bestimmt wollte sie mit ihm die Kammerspiele besuchen und nachher über das Theaterstück reden, in dem wahrscheinlich keine Hunde mit spielen durften. Sicherlich wollte sie am Wochenende in die Kunstausstellung nach Schloß Neuhaus fahren und nachher über die Skulpturen von Werner Schlegel diskutieren. Wahrscheinlich wollte sie einen gemeinsamen Urlaub in den Bergen machen, dabei kletterte er ungern einen Berg hoch, außer es war der Monte Scherbelino.
Sie drehten schweigend ihre Runde zu Ende, bis sie schließlich an dem Sportplatz standen, wo sie auf ihn zugelaufen war. „Sind sie öfter hier?“, fragte er. Sie nickte. „Dann sehen wir uns bestimmt wieder“, sagte er.
„Ja“, sagte sie und kraulte seinem Hund die Ohren. Fängt nicht jede Liebesgeschichte mit einem „Ja“ an. Er war zufrieden. Man mußte nicht alles aussprechen, was man fühlte. „Du sagst auch nie, wen Du magst“, sagte er zu seinem Hund. Welch ein Glück. In Paderborn verstand man sich auch so.

 
© 2016 Erwin Grosche