Schneeweißchen und Rosenrot, ihre Mutter und der Bär

Eine Märchen-Deutung

von Karla Schneider

Foto © Gerhard Notzem

Schneeweißchen und Rosenrot, ihre Mutter und der Bär
 
Ein Märchen für Wütende, Zynische und Verlassene
 
Eine arme Witwe in den besten Jahren hauste mit ihren beiden Töchtern, Schneeweißchen und Rosenrot genannt, einsam in einer Gegend ohne Autoverkehr, ohne Telefon, ohne Elektrizität und ohne Briefzustellung. Bis zum nächsten Nachbarn mußten sie vier Stunden laufen. Wollten sie in die Stadt zum Markt, mußten sie schon am Abend vorher losgehen.
Die Mutter erzog beide Töchter nach ihrem Wahlspruch: Was das eine hat, soll’s mit dem anderen teilen. Und so wurde denn alles, was sie besaßen, was sie ernteten, was sie im Wald fanden, durch drei geteilt.
 
An einem Abend im Januar, als das Elend wieder mal heulte und der Frost die Fenster blind machte, pochte es an die Tür der Hütte. Die Frauen sahen sich an. Und weil sie alles teilten, auch ihre Gedanken, dachten sie alle drei ungefähr an dasselbe.
„Geh, Rosenrot, schieb den Riegel zurück“, sagte die Mutter schließlich. „Es wird ein Scherenschleifer sein, der sich verirrt hat. Das trifft sich gut, denn alles was wir einst Scharfes hatten, ist längst schartig geworden.“
„Oder es ist ein Köhler, dem der Meiler ausgegangen ist“, sagte Rosenrot munter. „Sicher will er sich bei uns neue Glut holen.“
 „Oder es ist ein wandernder Musikant“, sagte Schneeweißchen verträumt. „Er wird uns Sachen vorspielen, die wir noch nie gehört haben. Er wird dudeln oder zupfen, bis uns Hören und Sehen vergeht.“
Aber vor der Tür stand ein Bär.
Sein Pelz war voller Kletten und Dornen, und er roch aus dem Maul. Er erhob sich auf die Hinterbeine und machte mit den Vorderpfoten bitte-bitte.
Rosenrot wollte ihm schon die Tür vor der Nase zuschlagen, da fing der Bär an mit menschlicher Stimme zu reden.
„Das könnt ihr doch nicht machen, liebe Frauen“, brummte oder vielmehr winselte er. „Nur eine Nacht laßt mich an eurem Feuer liegen.
Ich will euch auch gewiß nicht zu nahe treten. Jedes Kind weiß, daß ich kaum Fleisch anrühre. Ich bin strenger Vegetarier. Nur diese eine Nacht, dann verschwinde ich wieder. Auf Ehre und Gewissen.“
Da wollten die drei Frauen keine Unmenschen sein. Einen Bären, der von Ehre und Gewissen sprach, traf man nicht alle Tage.
Er durfte sich also vorm Feuer ausstrecken, Essen und Trinken wurden ihm aufgenötigt und sein schneenasses Fell mit Handtüchern trocken gerubbelt.
Ja, Rosenrot und Schneeweißchen wurden so zutraulich, daß sie ihm immer dichter auf den Pelz rückten. Unermüdlich, die halbe Nacht lang, klaubten sie ihm all die Kletten und Dornen aus den Haarzotteln. Dafür ließ der Bär sie Huckepack reiten und erzählte zum allgemeinen Ergötzen Schnurren aus seiner Vergangenheit. Wie er sämtliche Jäger gefoppt habe, die ihm nachgestellt hätten. Oder wie er damals den großen Schwarzbären aus seinem Revier vertrieben hätte.
„Das hättet ihr sehen sollen, meine Lieben – wir beide hoch aufgerichtet, brüllend vor Wut, und dann flogen die Fetzen nur so in die Brombeeren!“
„Nein, was für ein mächtiges Tier du bist“, sagte die Mutter bewundernd und verfütterte ihren besten Bienenhonig einen Löffel nach dem anderen an den Bären.
 
Am nächsten Morgen lag der Schnee knietief vor der Hütte, und es war keine Rede mehr davon, den armen Bären in die frostklirrende Welt hinauszujagen. Er selbst bestand auch gar nicht mehr darauf, sondern richtete sich behaglich vor dem Kamin ein. Er half der Mutter mal hier, mal da, neckte Schneeweißchen und schäkerte mit Rosenrot.
Nach einigen Wochen hätte keine der drei Frauen sich ein Leben ohne den Bären vorstellen können. Ja, sie fragten sich, wie sie es so viele
Jahre ohne Bär ausgehalten hatten. Wenn sie abgekämpft mit Reisigbündeln aus dem Wald kamen, vom Waten im Schnee bis an die Hüften durchnäßt, und die Hüttentür öffneten, schlug ihnen der inzwischen vertraute Geruch nach Bär entgegen.
 
Als die Winterstürme dem Wonnemond wichen, als die Schwalben schwirrend und schwätzend eintrafen, war der Bär noch immer im Häuschen der Witwe zu Gast. Auch als der Holunder weiße Sternchen ansetzte, als sich die Walderdbeeren röteten und die schweren Gewitter aufzogen.
Doch es kam ein heißer und wolkenloser Nachmittag. Ein wunderbarer Nachmittag, um Wäsche aufzuhängen und hinterher den Kaffee draußen in der Geißblattlaube zu trinken. Da erhob sich der Bär. Er stellte sich auf die Hinterbeine, schüttelte sich lange, als müsse er ein paar Kletten loswerden und tappte zur rosenumrankten Gartentür.
„Also, dann … herzlichen Dank für die Gastfreundschaft“, sagte er über die Schulter.
Die drei Frauen standen wie vom Donner gerührt.
„Ach, Bär, liebster Bär, warum willst du uns verlassen?“, rief Rosenrot. „Haben wir nicht immer deinen Geschichten von früher zugehört? Wie du sämtliche Jäger gefoppt hast und wie du damals den großen Schwarzbären aus deinem Revier vertrieben hast, ihr beide hoch aufgerichtet, brüllend vor Wut, und wie dann die Fetzen nur so geflogen sind. Und hab ich dir nicht sogar mein schwarzes Kätzchen gebraten, als du plötzlich Appetit auf Fleisch bekamst?“
„Ach, Bär, liebster Bär, geh noch nicht!“, jammerte auch Schneeweißchen. „Hab ich nicht deine Gedanken für dich gedacht und meine eigenen darüber vergessen? Haben nicht meine Augen für dich entdeckt und meine Füße dir alle Wege abgenommen?“
„Ach, Bär, mein süßer Tolpatsch, was willst du allein in der Wildnis anfangen?“, versuchte es die Mutter mit Autorität. „Woran hat es dir je
bei uns gefehlt? Hat nicht das Feuer im Herd gebrannt, so oft du dich daran legen wolltest? Hatten wir es nicht immer schrecklich gemütlich miteinander, wir vier?“
„Denkt bloß nicht, daß ihr mich erpressen könnt“, brummte der Bär. „Es gibt kein Recht der Gewohnheit, das ist eine pure Erfindung von euch. Immerhin hab ich euch die Ehre meines Besuchs lange genug erwiesen. Oder etwa nicht? Jetzt aber reift hinterm Wald der Kukuruz auf den Feldern, und sein Duft sticht mir in die Nase.“
Er winkte heiter zum Abschied, drehte sich um und rannte ins Dickicht.
Er kam nicht zum Abendbrot.
Kam nicht zum Winterbeginn.
Kam einfach nicht heim.
Kam nie mehr.
 
 
© Karla Schneider