Die Magie der Zahlen (3)

Die Zahl „40“ und ihre Bedeutung in der Literatur – Teil 1

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Die Zahl „40“
und ihre Bedeutung in der Literatur

(Teil 1)
 
Zunächst wieder etwas zu den Grundlagen.
 
Die Zahl 40 ist nach meiner Kenntnis die einzige, die in allen Weltkulturen ungefähr dieselbe Bedeutung hat. Schon die Babylonier leiteten von der jeweils 40tägigen Verdunkelung des bedeutsamen Siebengestirns der Plejaden hinter der Sonne eine Symbolik der 40 ab: Es ist eine Zeit des Erwartens und des Wachsens.
Die Ägypter und die Juden warteten bis zum Begräbnis eines Verstorbenen 40 Tage (daraus leitete sich letztlich der Brauch des christlichen Sechswochenamtes nach einer Beerdigung ab); die Indianer und Eskimos in Alaska errichten dem Verstorbenen 40 Tage nach der Beerdigung ein Seelenhäuschen auf seinem Grab; nach vierzig Tagen wurden jüdische Knaben feierlich beschnitten, und die Mutter durfte wieder am liturgischen Leben teilnehmen.
Im Arabischen ist 40 die Grenze der Geduld; wenn wir entnervt sagen, „das habe ich dir nun schon tausendmal gesagt“, sagt der Araber „vierzigmal“.
 
Altes und Neues Testament wimmeln geradezu von der Berufung der „40“, und die Zahl steht immer in einem bestimmten Sinnhorizont:
- Bei der Sintflut steigt das Wasser 40 Tage, dann verläuft es 40 Tage lang, erst nach diesen Fristen kann Noah die Arche verlassen.
- Isaak wartet bis zum 40. Lebensjahr, ehe er Rebekka heiraten darf.
- Israel zieht 40 Jahre durch die Wüste bis zum Gelobten Land, in dem sich zunächst die Kundschafter 40 Tage lang umschauten.
- Moses weilt 40 Tage auf dem Berg Sion in Erwartung der 10 Gebote, genau so lange wie Elias fastend auf dem Berg Horeb; er zog seit seinem  
  40. Lebensjahr mit Israel durch die Wüste, starb nach 40 Jahren 80jährig und wurde bis zu seiner Bestattung 40 Tage aufgebahrt.
- Niniveh hat 40 Tage Zeit zu Buße und Umkehr usw.
 
48 mal wird die Zahl im AT genannt (abgesehen von den Doppelnennungen). Das Neue Testament führt das weiter und fügt auch neue 40er Belege hinzu; dieserart gibt es dann hier nochmals 10 Bibelstellen, von denen die populärsten die ausdrücklich genau genannt Anzahl der Tage zwischen Auferstehung und Himmelfahrt Christi und besonders die von allen drei Synoptikern dezidiert angeführte Zahl der Tage und Nächte der Zurückgezogenheit und des Fastens Christi vor seinem öffentlichen Auftritt sind. Und siehe da: Nicht nur Christus hat sich wie dazumal Moses für 40 Tage aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, sondern in ähnlichen Situationen auch Buddha vor ihm und Mohammed nach ihm.
 
Das Christentum hat aus dieser Zahlenangabe zu allen Zeiten liturgisch-kalendarische Festlegungen und bestimme Zeiträume frommer Übungen abgeleitet. In Anlehnung an Christi Fasten dauerten die Weihnachts- und Epiphaniasfasten genau 40 Tage, und so ist die Frist der vorösterlichen Fasten bis heute: Aschermittwoch bis Ostern sind 46 Tage, von denen man die vom Fasten ausgenommenen sechs Sonntage abzieht. Diese 40er Fastenfrist wurde auch auf die Bußzeiten für bestimmte Vergehen übertragen; so sagt noch im zweiten Teil von Goethes „Faust“ die heilige Maria Aegyptica von sich:
 
            „Bei der vierzigjährigen Buße,
            Der ich treu in Wüsten blieb.“
 
Säkularisiert übernimmt Kafka diese Fristsetzung in seine Erzählung „Der Hungerkünstler“: „Als Höchstzeit für das Hungern hatte der Impresario vierzig Tage festgesetzt.“ Kafka stimmt dabei merkwürdig zu Karl Valentins „Tingeltangel“, wo sich ebenfalls ein Hungerkünstler „in einem Glashaus vierzig Tage lang ohne jede Nahrung einsperren ließ“. Wohl im nämlichen Zusammenhang hatte Wilhelm Grimm eine volksläufige Vorstellung notiert, gemäß derer es einen Saft gibt, der „vierzig Tage den Hunger abhält“,
 
Natürlich übernahm man die vorgegebenen 40 Tage-Fristen bei der Plazierung des Beschneidungsfestes Christi auf den 2. Februar (genau 40 Tage nach Weihnachten) sowie vor allem des Oster- und des Himmelfahrttermins, die genau 40 Tage auseinander liegen (Otfrid von Weißenburg schildert denn auch die Himmelfahrt Christi in genau 40 Versen). Hier erfaßte schon die Kirchenväter ein besonders frommes Erstaunen vor solch heiligem Zahlenspiel. Christus hatte verkündet, daß er erst nach seiner Himmelfahrt den Heiligen Geist senden werde. Das geschah dann zu Pfingsten. Das Wort ist die Ableitung von Pentekosta (also der 50.; gemeint ist der 50. Tag nach dem Osterfest) – diese für das Pfingstfest prädestinierte Zahl 50 steckt aber unabweislich in der 40, die eben für die Himmelfahrt Christi und die darauf folgende Sendung des Geistes konstitutiv ist, denn die Teiler der 40 ergeben addiert genau 50. So ist Pfingsten numerisch engstens und unabänderlich mit Ostern (durch die 50) und Himmelfahrt (durch die 40) verknüpft.
Nach dieser Erkenntnis gab es kein Halten mehr: Man suchte und fand 40er Bezüge allenthalben im Leben Jesu:
 
- Maria ging 40 Wochen mit Jesus schwanger (seit der Verkündigung am 24. März bis Weihnachten am 24. Dezember).
- Zwischen dem Fest der Geburt (25. Dezember) und Beschneidung Jesu (2. Februar) liegen genau 40 Tage.    
- Jesu öffentliches Wirken ab seinem 30. Lebensjahr bis hin zu seinem früh festgelegten Todesjahr mit 33 1/3 Jahren umfaßt einigermaßen genau
  40 Monate.
- Christi Grabesruhe vom Karfreitagnachmittag bis zum Ostersonntag dauerte 40 Stunden (seit 1275 gibt es das 40stündige Gebet).
- Zwischen Auferstehung und Himmelfahrt liegen 40 Tage.
 
Auf die Dauer der Schwangerschaft Mariae weist Walther von der Vogelweide dezidiert hin: Der Herr Jesus „was in einer reinen megde klûs / wol vierzec wochen und niht mê“. Da fand es das Mittelalter nur ganz in der Logik des Heilsplans, daß der Name der Gottesmutter nach ihrem Buchstabenwert genau 40 ergibt: M=12, A=1, R=17, R=9, A=1 (Walther kommt in seiner großen geistlichen Dichtung übrigens genau im 100. Vers auf die vierzig Wochen zu sprechen: 100 war eine ebenfalls auf die Gottesmutter weisende Zahl, weil das mittelalterliche „Ave Maria“ aus genau 100 Buchstaben bestand). Die Zahl der ionischen Säulen in der größten Marienkirche der Welt (Maria Maggiore in Rom) beträgt erwartungsgemäß 40, und in der Geburtskirche zu Bethlehem brennen ständig 40 silberne Lampen.
 
Goethe hat sich in seinen Noten zum „Westöstlichen Divan“ ausführlich mit der Bedeutung der 40 befaßt und kommt zu dem Schluß:
„Mehrere runde, heilige, symbolisch, poetisch zu nennende Zahlen kommen in der Bibel vor. Die Zahl 40 scheint dem Beschauen, Erwarten, vorzüglich aber der Absonderung gewidmet zu sein.“
 
Welche Zeitspanne wäre geeigneter, Absonderung und vor allem Erwarten zu bezeichnen als die Zahl 40 der menschlichen Schwangerschaftswochen? Naturbeobachtungen konnten das bestätigen: Von der Larve bis zum Schlüpfen der Biene dauert es 40 Tage, und manche Tiere halten einen Winterschlaf von etwa 40 Tagen. Die Raben füttern ihre Jungen ziemlich genau 40 Tage lang. Der spätantike „Physiologus“ übertrug die Zahlenbedeutung auf die periodische Verjüngung der scheinbar unsterblichen Schlangen durch Abstreifen ihrer alten Haut:
 
„Wenn die Schlange alt wird, läßt sie sich's nicht verdrießen und fastet vierzig Tage und Nächte lang, bis ihr die Haut zu schlaffen anfängt.“


 
Lesen Sie am kommenden Freitag noch mehr über die Zahl „40“.
 
Redaktion: Frank Becker