Die Magie der Zahlen (4)

Die Zahl „40“ und ihre Bedeutung in der Literatur – Teil 2

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Die Zahl „40“
und ihre Bedeutung in der Literatur

(Teil 2)
 
Schaut man in den profanen Bereich, so ergeben sich Dutzende von Beispielen. Julia soll 40 Stunden als scheinbar Tote schlafen, bis Romeo sie zu erwecken kommt. Wenn sich die Engländer zu einem Mittagsschläfchen zurückziehen, so soll dieses tunlichst „forty winks“ dauern.
Goethe schreibt in seiner Italienischen Reise ausdrücklich von sich „ich will mich ausbilden, ehe ich vierzig Jahre alt werde“. Nach 40 Jahren sollte der Mensch seine endgültige Reifestufe erreicht haben, darauf spielen Dutzende von Sprichwörtern seit dem Mittelalter an:
„Ein Vierziger kommt zur Einsicht“
„Mit Vierzig wird man gescheit“
„Mir Schwobe werdet erscht mit 40 gscheit, die andere net in Ewigkeit“
„Wer vor 40 nicht klug wird, der mag nicht hoffen, daß er noch etwas erlangt“, sodaß Luther mahnen konnte, daß man bis dato Kinder gezeugt, ein Haus gebaut und Bäume gepflanzt haben soll.
„Ich bin jetzt im Schwabenalter“, schreibt der aus Schwaben stammende Dichter Wieland, und jeder wußte, was gemeint war.
Andererseits soll man ab diesem Alter auch nicht mehr den Täuschungen der Welt aufsitzen, sondern sie durchschauen, wie der Romantiker Ludwig Tieck es einmal sehr pessimistisch formuliert:
 „O glauben Sie mir, dem Manne, der über vierzig ist, der die Welt gesehen hat, und der doch kein Menschenfeind ist, dem sollte man Altäre aufrichten.“
 
Ähnlich hoffnungslos, wenn auch anders akzentuiert, faßt das der Barockdichter Zincgref im Jahr 1626:
„Der Mensch bleibt närrisch bis ins vierzigste Jahr; wenn er dann anfängt, seine   Narrheit zu erkennen, so ist das Leben schon dahin.“
Goethe wendet das positiv: „Vierzig Jahr war ich alt, da mich der Irrtum verließ.“ Und noch 2003 sagte Peter Härtling in einem Interview: „Wenn du 40 wirst, mußt du dich entscheiden“ - in seinem Fall, ob er Verlagskaufmann bleiben oder selbständiger Schriftsteller werden wollte.
Etwas frivoler sieht Harsdörffer Mitte des 17. Jahrhunderts diese temporale Grenzscheide des menschlichen Lebens besetzt: „Mit 40 werden junge Huren alte ehrbare Weiber - bis dato keusche Jungfrauen aber alte Huren.“
 
„Vierzig Jahre sind das Alter der Jugend“, sagt der Volksmund. Diese Erkenntnis kam Hugo von Hofmannsthal erst während seiner Arbeit am „Jedermann“: Während er zunächst den melancholischen Protagonisten eher zufällig als Achtunvierzigjährigen konzipiert hatte, weist er ihm in der Endfassung des geistlichen Spiels ganz bewußt genau 40 Jahre zu – ein Alter, in dem Jedermann bemerkt, daß er sein Leben bislang verfehlt hat.
 
Der Mensch hat oft abzuwarten, bis die 40 erfüllt ist; schon der altgriechische Zentralbegriff „Akmae“ faßt die Zeit um das 40. Lebensjahr als Höhepunkt der menschlichen Reife und Schaffenskraft auf (demzufolge erwartete Kant seien Paligenese an seinem 40. Gebrutstag); viele Literaten raten, erst ab diesem Alter (wie Isaak oder Esau) zu heiraten.
„Er hatte mit 40 die Gaugenjahre überschritten, bevor er sich in ehliches Versprechen eingelassen“, heißt es beim Barockdichter Harsdörffer; der Schwabe Hauff läßt seien Protagonisten „erst dann heiraten, wenn die Schwaben klug werden, das heißt im Vierzigsten“; in Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“ beschließt Leverkühn, daß er sich nun verheiraten will: „Daß er vierzig werde, meinte er, sei am Ende Mahnung genug, den Anschluß nicht zu versäumen“; in Mascagnis Oper „L'amico Fritz“ freut sich der Protagonist, daß er vierzig Jahre ehelos überstanden hat, bis ihn der Rabbi mit der Geschichte von der Heirat Isaaks mit Rebekka in diesem Alter andern Sinnes werden läßt, so daß er noch an seinem 40. Geburtstag seiner Suzel die Ehe verspricht.
 
Auf den angeblich günstigen Zeitpunkt der Eheschließung solle man, auf bestimmte Ämter muß man so lange waren. So darf man in Deutschland (parallel zur altrömischen Ämterlaufbahn, gemäß derer auch italienische Senatoren mindestens 40 Jahre alt sein müssen) erst mit 40 Jahren Bundespräsident werden; nach 40 Tagen muß nach internationalem Recht über ein Auslieferungsbegehren entschieden, nach 40 Tagen können Quarantänen aufgehoben werden; auch beim Auftreten der Schweinepest dürfen Tiere laut NRW-Gesetzgebung 40 Tage lang nicht transportiert werden. Vor der Ablegung oder Wiederholung der Ordensgelübde sind für den Jesuiten die 40tägige Exerzitien Pflicht. Nach diesem Vorbild bietet die koreanische Moon-Sekte derzeit teure Meditationskurse von genau vierzig Tagen Dauer an.
 
Eher peinliche 40tägige Wartezeiten sind die 40tägige Folter vor der Hinrichtung im Mailand der Viscontis, der noch heute die Höchstdauer von 40 Tagen der italienischen Untersuchungshaft entspricht; angstvoll betrachtete man die 40 Tage, die dem bösen zauberischen Golem als Wirkungszeit zugemessen sind, sowie die Wartefrist von 40 Tagen, nach denen der beerdigte Vampir erstmals aus seinem Grab steigen kann.
 
Schaut man in die neuere Literatur seit der Barockzeit, so finden sich entsprechende Belege im Umkreis der Zahl 40 zuhauf. Hier seien abschließend nur noch zwei vorgestellt, die noch einmal etwas mit Goethe zu tun haben.
 
Es läßt sich beweisen, daß Gottfried Keller in seinem Roman „Der grüne Heinrich“ ganz bewußt auf die altüberkommene Bedeutung der Zahl anspielt. In der Erstfassung des Romans von 1854 liest man im 1. Kapitel des 3. Bandes, daß der von der Schule relegierte Protagonist sich auf den Schritt ins Leben vorbereitet, der ihn aus dem Schweizer Elternhaus ins ferne Deutschland führen soll. Mit seinem Aufbruch hat es noch etwas Zeit, und er beschließt diese sinnvoll zu nutzen. Der Ich-Erzähler überredet einen Buchantiquar, ihm Goethes Gesammelte Werke zur Ansicht zu überlassen (daß er sie hernach tatsächlich nicht kaufen kann und will, ist ihm schon klar):
„Ein artiges Lotterbettchen stand an der Wand. Auf demselben lag ein ansehnlicher Stoß Bücher; es waren Goethes sämtliche Werke. Ich entfernte mich von selber Stunde an nicht mehr vom Lotterbettchen und las dreißig Tage lang.
Der ebenso fleißige wie schon lebenskluge Heinrich dürfte pro Tag einen Band gelesen haben, so daß Keller 1854 mit der Zahl 30 wohl auf die Goethe-Ausgabe Letzter Hand im Umfang von 30 Bänden anspielt. Gerade und ausgerechnet diese Zahlenangabe hat Keller 25 Jahre später in der Zweitfassung des Romans signifikant geändert, während er die Passage sonst wörtlich beibehielt.
1879 heißt es nämlich:
„Ich entfernte mich von selber Stunde an nicht mehr vom Lotterbettchen und las vierzig Tage lang.“
 
Was hat zu dieser Änderung bewogen, die allein schon beweist, daß Dichter solche Zahlen nicht nach dem Zufallsprinzip wählen? Die Cotta'sche Gesamtausgabe von Goethes Werken war inzwischen auf 40 Bände angewachsen. Der Erzähler bringt die Welt seines Helden sozusagen auf den neuesten Stand. Zum andern mag sich Keller der eben zitierten Einsicht Goethes erinnert haben, daß die 40 das „Erwarten“, besonders aber die Frist einer „Absonderung“ symbolisiert: Heinrich wartet 40 Tage abgesondert in seinem Kämmerchen, und er erwartet seinen Schritt ins Leben. Daß er diese Zeit der Absonderung und Erwartung gut genutzt hat, bestätigt er sich wenig später selber: Er sah die Welt mit andern Augen und vieles schien ihm jetzt im richtigen Licht – auch seine Berufswahl [man sollte jungen Menschen und zumal Studenten der Germanistik diese Kur empfehlen: An 40 Tagen 40 Bände Goethe zu lesen...].
 
Hier kann man nun noch auf ein interessantes und ziemlich singuläres Phänomen hinweisen: Im Lauf des 19. Jahrhunderts wurde die Zahl „40“ zu einer Art Synonym für Goethes Gesamtwerk. Wilhelm Raabe schreibt im „Abu Telfan“ ohne den Namen Goethe ausdrücklich zu erwähnen:
„Vierzig Bände Weltruhms – in allen Lagen nimm dir ein Exempel an dem alten Geheimen Rat.“
 
In einem Raabe'schen Aphorismus heißt es:
„Da werden in alle Zeit hinein alle 40 Bände die große Panazee bilden; und die armen Schächer laßt die Nase rümpfen.“
 
Der junge Hugo von Hofmannsthal übernimmt die Tradition des 19. Jahrhunderts, in der Berufung von „40 Bänden“ immer eine Umschreibung für Goethes Gesamtwerk zu sehen, denn in einer entsprechenden Bemerkung aus dem Jahr 1896 kommt in diesem Zusammenhang der Name Goethe genau wie bei Raabe überhaupt nicht vor:
„Mein geliebten 40 Bände, wie kleine Hausgötter. Wie sie immer wieder vollzählig zusammenkommen. Ihr Zusammenkommen hat etwas Olympisches.“
 
Der notorische Vielleser Hofmannsthal hatte immer wieder erfahren, wie weit die 40 Bände seiner heute noch in der nachgelassenen Bibliothek vorhandenen Goethe-Ausgabe durch Nachschlagen oder Lektüre auseinander gezogen waren, und er hatte die Vorstellung, daß sie immer wie von selbst wieder gleichsam magisch zur alten Einheit zurückkehrten – das entsprach seinem Begriff und seinem Bild vom 'ganzen Goethe' und von den „geliebten 40 Bänden“.
 
 
Finis
 
Redaktion: Frank Becker