Der alte Mann 12

von Erwin Grosche

Foto © Frank Becker

Der alte Mann 12
 
Die Stadt war versunken unter einer dicken Schneedecke. Natürlich hatte man davor in der Tagesschau gewarnt, aber dann waren doch alle überrascht, wie lückenlos der Winter alles verschwinden ließ und in Beschlag nahm. Die Kinder freuten sich und fuhren mit ihren Schlitten den Monte Scherbelino hinunter. Der alte Mann ging mit seinem Hund spazieren und schaute zu, wie er sich übermütig im Schnee wälzte. Manchmal ließ er ihn hinter einem Schneeball herjagen, der schon beim Aufprall nicht mehr zu entdecken war. „Such, such“, rief er dann und freute sich an dessen ungetrübter Spielfreude. Der alte Mann ging weiter. Schneeräumfahrzeuge begleiteten ihn auf dem Weg durch die Stadt.  Die großen Straßen wurden geräumt und er war froh, daß er kein Auto hatte. Er schaute in den Himmel und schloß die Augen. Es war so windig, daß die Flocken hin und her flogen, als hätten sie keinen Plan, wo sie landen konnten.
 
Vielleicht sollte man Weihnachten in den Januar verlegen“, sagte Alfred. Seine Freunde und er saßen, wie jeden Freitag, im Cafe Röhren und trafen sich dort zum Frühstück. Lorenz biß in sein Baguette. „Das ist eine gute Idee“, sagte er, „dann könnten wir das Fest im Schnee feiern.“ Sie schauten aus dem Fenster. Tatsächlich wirkte die Stadt wie ein großer Christstollen, den man übertrieben lange mit Puderzucker bestreut hatte. Heute wäre ein guter Tag, um das Weihnachtsfest zu erleben. „Und was machen wir dann mit Ostern?“, fragte Ruth. Sie wartete immer noch auf ihr englisches Frühstück und bediente sich so lange an den Brötchen aus dem Brotkorb des alten Mannes. Wir könnten Ostern am 1. Mai feiern“, sagte Alfred. „Da ist das Wetter eher geeignet zum Eiersuchen.“ Obwohl der alte Mann das gar nicht ernst gemeint hatte, nickten alle. Die Bedienung, ein junges Mädchen mit Schnupfen, kam vorbei. „Bei ihnen soweit alles in Ordnung?“ Ruth verdrehte die Augen. „Ich hatte auch ein Frühstück bestellt“, sagte sie kokett. Das Mädchen hustete und nickte den Kopf. Eine Hustenattacke überfiel sie, und sie konnte erst wieder sprechen, nachdem sie sich die Nase mit einer Serviette geputzt hatte. Sie hatte plötzlich Tränen in den Augen und schüttelte sich. „Ich frage mal nach“, sagte sie schnell und verschwand, bevor man noch was sagen konnte. Ruth seufzte, als rechnete sie nicht mehr mit Rührei und Speck. „Ich feiere auch den Geburtstag meiner Frau lieber an einem x-beliebigen Tag“, griff Alfred das Thema wieder auf. „Das ist überraschender als ihren Geburtstag an ihrem Geburtstag zu feiern.“ „Und dann kann man ihn nicht mehr vergessen“, sagte Lorenz. „Das ist genial.“
 
Draußen schneite es noch immer. Der Winter ist sehr gut im Winter zu ertragen. Jeder kannte den Punkt, wo er ihn lieber weit weg wünschte, um dann bei Bedarf hinfahren zu können, wenn man mal einen Tag mit Skiern den Hügel hinunterdüsen wollte. Der Winter paßt gut ins Sauerland, dachte der alte Mann. Da stört er nicht und alle Winterfreunde ziehen sich dementsprechend an. Vielleicht war es wirklich nicht verkehrt, die Welt nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Vielleicht sollte man die Erde neu und zweckmäßig planen, damit sie besser zu den Menschen paßt. Wer kann am Montag Sonne gebrauchen, wenn man in einer Würstchenbude arbeiten muß und die Kinder wieder Schule haben? Auch die Einführung von Sommer- und Winterzeit war ein Anfang dieses neuen Denkens. Macht euch die Erde untertan. Bekam man nicht auch ein englisches Frühstück in Paderborn? 
Und ich feiere meinen Namenstag, wenn du sonst Namenstag hast“, sagte Alfred zu Lorenz.
Und ich feiere meinen Lorenztag am Alfredtag“, sagte Lorenz.
Dann kriege ich auch deine Geschenke“, sagte Alfred.
Aber du kriegst doch nie Geschenke“, sagte Lorenz.
„Eben“, sagte Alfred.
Sie lachten. 
Wir könnten dann auch den Montag zum Dienstag machen, dann haben die Friseure auf“, flüsterte Ruth.
Nur Libori“, sagte der alte Mann. „Unser Libori muß in der letzten Juli-Woche starten, sonst wird das nichts.“
Alle nickten. An manchen Traditionen durfte nicht gerüttelt werden. 
Und was sagen dann die Kinder, wenn der Lehrer sie fragt, was Besonderes am 24. Dezember passiert ist?“, fragte Ruth und nahm endlich erstaunt ihr Frühstück entgegen. „Da ist der Joghurt abgelaufen“, sagte Alfred nebenbei und tippte dem alten Mann an die Stirn, als hätte man da auch selbst drauf kommen können. Oh, diese Narren, dachte der alte Mann, diese liebevollen alten Kinder. Hoffentlich werden sie noch ewig leben.
 
 
© 2017 Erwin Grosche