Beckfelds Briefe

An Hellmuth Karasek

von Hermann Beckfeld

Hermann Beckfeld - Foto © Dieter Menne
Er schrieb Bücher am Fließband und hetzte von einer Lesung zur nächsten: Hellmuth Karasek, der lebende Beweis, daß Lesen unverzichtbar ist. Der offene Brief von Hermann Beckfeld, den wir heute veröffentlichen, „erreichte“ den Adressaten noch zu Lebzeiten. Am 29.9.2015 ist Hellmuth Karasek gestorben.
 
Sehr geehrter Herr Karasek,

es war Weihnachten 1944 im schlesischen Bielitz. Sie hatten schon vor der Bescherung heimlich die ersehnte elektrische Eisenbahn in der Schublade eines Kleiderschranks aufgestöbert. Doch Sie durften mit dem Geschenk nur wenige Tage spielen. Auf der Flucht vor der Roten Armee blieb das Spielzeug zurück. Sie waren in Ihrer Kindheit fünfmal auf der Flucht, haben die Erfahrung machen müssen, daß man Ihnen vieles nehmen kann, aber eines nicht: erlesene Weisheiten für den Kopf, die Seele, das Herz.
 Eigentlich kenne ich keinen Neid, aber ich hätte gerne so viele Bücher gelesen wie Sie. Sie lieben Worte auf Papier, sind Literaturkritiker, Autor, Kolumnist. Sie sind eine lebende Bibliothek und der Beweis, wie unverzichtbar es ist zu lesen. Wir brauchen gute Bücher als Stoff für unsere Träume, unsere Fantasie, unser Glück. Bücher helfen, das Leben zu meistern.
 Fast scheint es so, als ob die Zeit der Fluchten Sie geprägt habe. Sie schreiben Romane und Kolumnen am Fließband, Sie hetzen auch mit 79 von Lesung zu Lesung und sehen in Talkshows aus, als wenn Sie nach einer langen Nacht gerade aus dem Bett gestiegen wären. Die Haare zerzaust, die Haut blutleer, der Blick müde bis nachdenklich. Und dann sind Sie plötzlich hellwach, zitieren Texte, verknüpfen Literatur mit Leben, unserem, Ihrem Leben. Sie formulieren Sätze, Lebenserfahrungen, die uns auf Kurs bringen. Nur ein Beispiel: „Ich habe mir vorgenommen, mich nicht mehr unter meinem Niveau zu ärgern.“ Mir gefallen nicht alle Bücher, die Sie geschrieben haben. Ich mag nicht die Schilderung Ihrer erotischen Jugendsünden, eine Beichte, geschrieben in der 3. Person. Ich glaube Ihnen auch nicht, wenn Sie sich manchmal als uneitel darstellen. Zwischen den Zeilen lese ich Ihre Probleme mit dem Altwerden und der schwindenden Anziehungskraft auf Frauen. Ich spüre Ihre Angst vor dem Tod, ein bißchen auch das Gefühl, daß Ihre Lebensleistung von Journalisten-Kollegen nicht ausreichend gewürdigt wird.
 
Sehr geehrter Herr Karasek,
wir sind uns dreimal begegnet. Zuerst, während ich Ihr Buch „Das Magazin“ gefressen habe. In dem haben Sie nicht nur Ihrem ehemaligen Arbeitgeber, Sie haben unserer gesamten Zunft den Spiegel vorgehalten. Dann bei unserer gemeinsamen Talkshow im Schloß Bellevue. Und zuletzt nach einer Lesung bei einigen Gläschen Bier in meiner Bottroper Stammkneipe. Wir haben uns bis spät in die Nacht unterhalten. Jetzt weiß ich, daß Sie zu Weihnachten Ihrem ersten Sohn eine elektrische Eisenbahn geschenkt haben, die später an seine beiden Brüder weitergegeben wurde. Die Eisenbahn verstaubt im Keller. Ihre Leidenschaft für Literatur aber lebt. Sie ist sogar ansteckend.
 
Hermann Beckfeld
(23.03.2013)

Mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlags Henselowsky Boschmann.
„Beckfelds Briefe“ erscheinen jeden Samstag im Wochenendmagazin der Ruhr Nachrichten.

Redaktion: Frank Becker