Ein Alptraum

Maryse Wolinski – „Schatz, ich geh zu Charlie!“

von Frank Becker

Ein Alptraum
 
Maryse Wolinski hat den Alptraum erlebt, vor dem sich seit dem international zunehmenden Wüten des islamischen Terrors viele Menschen in der freiheitlichen westlichen Welt fürchten. Ihr Mann, der Zeichner Georges Wolinski, war eines der elf Opfer, die am 7. Januar 2015 in den Redaktionsräumen des französischen Satire-Magazins „Charlie Hebdo“ von radikalen Moslems ermordet wurden. Das zwölfte Opfer war ein bereits am Boden liegender Polizist, den die Mörder auf der Straße kaltblütig hinrichteten. Dieser Anschlag gegen die Freiheit von Kultur und Meinung, das gezielte Auslöschen einer kritischen Zeitschriften-Belegschaft im Herzen des liberalen Paris war bis dahin beispiellos und schien mit einem Aufschrei der Empörung für die Dauer eines Wimpernschlages die Politik aller Lager zu einen: dem Terror Einhalt zu bieten. Aber weil wir im Grenzen-losen Europa ja so liberal sind und jedem Menschen, auch den Bösen, Herz und Türen öffnen, kommen die, welche uns hassen, kommen Mörder auf unsere Einladung nach wie vor und offenbar in großer Zahl ungehindert in unsere friedliche Welt, die sie zerstören, die sie unterwerfen wollen.
 
Maryse Wolinskis Buch „Schatz, ich gehe zu Charlie!“ ist eine letzte Liebeserklärung an ihren Georges, aber keinesfalls eine Abrechnung mit der radikalen islamistischen Bewegung, die hinter diesem Anschlag und vielen anderen steht. Es ist der erschütternde Bericht einer Frau, die ihren geliebten Mann an den Irrsinn religiöser Hybris, an die grenzenlose Verblendung von blindem Haß gesteuerter Mörder, an den Blutdurst von Wahnsinnigen verloren hat, die sich anmaßen, im Namen ihres Gottes zu töten. Sie hält diesem Haß ihre Trauer entgegen, ohne sich selbst in wütende Tiraden zu versteigen, so verständlich das auch wäre.
Maryse Wolinski hat die Kraft aufgebracht, mit Verletzten und Überlebenden des Anschlags, mit Polizisten und Journalisten, mit Zeugen zu sprechen. Minutiös und gleichzeitig hilflos schildert sie diesen fürchterlichen Tag und die Zeit danach mit ihren Gedanken und Gefühlen, den Tag, an dem sie aus dem Radio erfahren, zwischen Hoffen und Bangen quasi miterleben mußte, daß und wie ihr geliebter Mann umgebracht wurde. Sie wirft aber auch – ohne jede Schuldzuweisung – Fragen danach auf, wieso die Pariser Polizei so entsetzlich lange brauchte, auf Notrufe zu reagieren, während die schwerbewaffneten Täter noch im Gebäude nach ihren Opfern suchten, fragt, wieso die Polizei mit ihrer schlechten Ausrüstung schließlich den bestens ausgestatteten Mördern unterlegen war.
 
Maryse Wolinski ist nach 47 Jahren Liebe und Ehe nichts geblieben als eine Sammlung liebevoller Notizzettel, die Georges fast täglich mit kleinen Botschaften für seine Frau in der Wohnung angeheftet hatte. Und seine letzten Worte an diesem schicksalhaften Morgen sind ihr im Ohr geblieben, als er das Haus verließ und ihr fröhlich zurief: „Schatz, ich gehe zu Charlie!“ Die Mörder, deren Namen es nicht wert sind, hier erwähnt zu werden, wurden zwei Tage später gestellt und im Feuergefecht von der Polizei erschossen. Geblieben sind die grenzenlose Trauer und der Alptraum, den Maryse und all die anderen Angehörigen der Opfer dieser unmenschlichen Mordtat seither Tag für Tag durchleben müssen.
Dieses Buch macht fassungslos und wütend, vor allem aber macht es entsetzlich traurig. Es wirft, ohne es zu verbalisieren, aber auch die Frage auf, wieso islamische Staaten und ihre geistlichen Führer in aller Welt, wieso sich islamische Gemeinden im freien Europa sich nicht entschieden und vehement gegen solche Mörder, Auswüchse und den Mißbrauch ihrer vorgeblich friedlichen Religion stemmen.
 
Maryse Wolinski – „Schatz, ich geh zu Charlie!“
Aus dem Französischen übersetzt von Dieter Hornig und Katrin Thomaneck
© 2017 Residenz Verlag, 144 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag - ISBN: 9783701716784
19,- €

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