Damenbesuch

von Karl Otto Mühl

Damenbesuch
 
Von Karl Otto Mühl
 
Von ihrem Sessel aus betrachtete sie, was von der Wohnung wahrzunehmen war, immer ein wenig besorgt, … zu neugierig zu wirken. Betrachten, sprechen, sich bewegen, denken – es geschah nie, ohne daß sie gleichzeitig vor anderen Rechenschaft darüber ablegte – mit Blicken, mit dem Klang der Stimme - , eine Rechenschaft, die immer gefällig sein wollte. Sie war so geblieben, wie sie immer gewesen war, kindlich. Auch noch mit vierundvierzig Jahren.
„Ich wußte immer, daß Sie es sich genauso einrichten würden, wie Sie wollten. Genauso, wie Sie es wollten. Sie haben es gut.“
 So konnte man es auch nennen, wenn einer es geschafft hatte, bei einer kleinen Zeitung Wirtschaftsredakteur zu werden.
 „Und Sie sind noch mit der Susanne zusammen? Das war doch so ein liebes junges Mädchen. So eine kleine Persönlichkeit.“
 Sie siezte ihn wieder. Das Du hatte es nur minutenweise gegeben, damals vor Jahren.
 „Susanne ist verheiratet. - Was machen Ihre Kinder?“
 „Die Kinder, die Kinder…“
 
 Die Antwort war wie bei fast allen Leuten seiner Generation in der Mittelschicht: Hartmut studiert, Beate studiert, Stefanie macht jetzt das Abitur.
 Hätte er sich denken können.
 Das ovale Gesicht mit den Grübchen, die leise, fast gehauchte Stimme. Ich behalte immer so ein Kindergesicht, hatte sie gesagt, ganz lange, und dann auf einmal werde ich ganz alt.
 Ihr Mann, Jürgen hieß er, hatte es zu etwas gebracht.
Er war im Vorstand der Soundsobank, ein großes Haus, ein großes Auto und ein zweites noch dazu, viel Geld und sogar manchmal ein Leibwächter. Wegen der Terroristen.
 Allerhand, dachte er, dieser Jürgen mit der steilen Stirnfalte hatte es weit gebracht. Aber was machte diese versteckte, leise Frau in einem so großen Haus und mit soviel Geld?
 „Ich mache mir nichts daraus“, sagte sie, „ich geh‘ nirgendwo mit hin. Der macht sowieso, was er will.“
 
 Das war böse gemeint. Aber ihr Unglück war, sie konnte nichts Böses sagen, oder man merkte es nicht, wenn sie es versuchte. Wie merkwürdig war das damals gewesen, als sie sich durch Freunde kennengelernt hatten. Erhitzend und beunruhigend, anziehend und doch weiter nichts, was man begreifen, erzählen oder verstehen konnte. Einige Wochen und Monate, wo sie sich einander auf die sonderlichsten und verbotensten Weisen näherten: Die Kinder spielten in der Stube, sie saßen artig nebeneinander auf dem Sofa und hatten eine Wolldecke über beide Knie gebreitet; sie schickte die Kinder in den Garten, setzte eins im Bad aufs Töpfchen und glitt langsam vor ihm auf die Knie; sie schickte Jürgen mit den Kindern spazieren, weil sie angeblich mit dem Besucher über Jürgens Geburtstagsgeschenk sprechen
mußte, Jürgen war ja so ein Waffennarr. Wahnsinn, dem, wenn er da war, nicht zu widerstehen war; Wahnsinn, der nach einigen Monaten vergessen war, wie eine verheilte kleine Wunde.
 
 „Ein schöner Abend ist das für mich. Ich bin sonst immer so unruhig.“
 
 Ich habe mich nie gewundert, dachte er. Ich hätte mich viel mehr wundern müssen. Wo war das versteckt, außer in diesen wenigen Minuten, in denen wir allein zusammen waren? Wo war es in den vielen Stunden, Tagen, Wochen, Monaten, Jahren, in denen sie so brav, so lieblich, so leutselig, so freundlich, so vernünftig mit ihrem Mann sprach? Wie hatte sie ihre Süchtigkeit so gut verstecken können?
 
 Ha - und dann das Buch. Über dieses Buch hatten sie und Jürgen immer wieder mit ihm gesprochen. Sie drängten ihn und sagten ihm, daß man das kennen müsse, daß man das Leben versäume, wenn man es nicht kenne, daß man - kurz gesagt - danach leben müsse. Es hieß „Diotima: Die Schule der Liebe“.
 
 Er hatte es später einmal überflogen. Merkwürdig , daß er es nicht gemocht hatte. Ihre raffinierten Zärtlichkeiten hatte er gemocht, das Buch nicht.
 Nun war sie für einen Tag und eine Nacht bei ihrer Schwester, bei Monika. Deren Mann hatte einen kleinen Betrieb, ein Kind war auch da. Morgen fuhr sie wieder
mit dem Zug nach Hannover.
 Warum war sie gekommen? War es immer noch das Buch, nach dem sie lebte, abends mit Jürgen im rosa beleuchteten Zimmer, mit flauschigen Hockern, mit Duft und Gestöhne?
 
 Er selbst hatte das selten. Es schien nur eines zu geben, zu viel oder zu wenig davon.
 
Warum hatte er so selten an sie gedacht? Es war doch etwas Merkwürdiges, daß Menschen ein geheimes wahnsinniges Leben führten, sich dann mit Jackenkleid und weißer Bluse mit Rüschen unter die Leute mischten und freundlich plauderten; über alles plauderten in der Welt, nur über das eine nicht, über den geheimen, süchtigen Wahnsinn, der sie nächtelang ausfüllte. War sie zufrieden, ging es so lange gut, wenn man zwanzig Jahre lang verheiratet war? Konnte er etwas von ihr lernen?
 Sie saß da und nippte an dem Likör. Es stand nur dieses eine Likörglas da und seine Bierflasche mit dem Steinkrug daneben, was sie natürlich „herzhaft“ und „urig“ fand. Das Zimmer war dämmerig. Da waren Bücherbretter an den Wänden, alles, was ein Journalist braucht, ein vollgepackter Schreibtisch mit ungelesenen Büchern, ungelesenen Manuskripten, eine Schreibmaschine, ein geschnitztes kleines Tempelchen, das ihm Hanna, die meditierte, mitgebracht hatte; eine Menge Zeitungsausschnitte.
 Ob sie sich Gedanken darüber machte, wie er so lebte?
Sie fragte nicht nach seinen Freunden, und sie hatte auch nicht nach seinen Freundinnen gefragt. Hatte sie eine Vorstellung, was er abends machte, wenn er um acht Uhr aus der Redaktion kam? Sie hätte es sicher auch schön gefunden, wenn er erzählt hätte, daß er dann einen Bummel durch die Stadt mache und in einer Schenke pausiere, in der er an normalen Tagen zwei und an ruhigen Tagen auch drei Biere trank. Danach gab es zu Hause nicht mehr viel zu tun, wenigstens tat er nicht mehr viel. Er duschte und legte sich ins Bett, mit aufmerksam offenen Augen. Die Freuden des einsamen Bettes genießen.
 
 Er wußte wenig von ihr. Warum sie gekommen war - so genau hatte sie nicht darüber nachgedacht. Dessen konnte er sicher sein.
 Er sah, wie sie mit einem Lächeln auf ihr Likörglas blickte. Er trat hinter sie, legte die Hände auf ihre Schultern, ließ sie tiefer gleiten, zog sie an sich.
 Es war ganz leicht. Sie machte es ihm leicht. Als sie ruhig nebeneinander lagen, die Decke hochgezogen hatten - sie wollte so gern kuschelig warm neben ihm liegen -, sagte sie: „Warum hast du nie angerufen? Zwanzig Jahre lang nie angerufen?“
 Na, dafür gab es doch Gründe. Eine Familienmutter, eine Vorstandsgattin, eine Dame aus der Gesellschaft. Und überhaupt, verheiratet.
 „Ich habe es mir so sehr gewünscht.“
 „Warum?“
 „Weil ich mir immer so was wie Liebe wünsche“, sagte sie. „Du denn nicht?“
 Sie hatte sich Liebe gewünscht. Da hatte sie doch dieses großartige Buch!
 Er sagte: „Ich dachte, gerade ihr -- ihr -- ihr hättet das.“
 „Ich will wirklich nichts mehr damit zu tun haben. – Du hast nie angerufen…“
Sie hat sich nicht geändert. Man bekommt immer zuviel und zu wenig. Zu wenig ist vielleicht praktischer.
 „Rufst du mich denn wieder an?“
 „Aber, ich weiß ja nicht, wann du allein in der Wohnung bist, und was dein Mann denken wird… “
 „Dem ist es egal. Er hat eine andere. Das ist mir auch sehr recht. Ich könnte es nicht mehr ertragen, daß er mich anfaßte.“
 Ob sie denn keine Freunde habe?
 „Nein, Freunde haben wir nie gehabt. Da kommen allerhand Leute, meistens so Kommerznazis, weißt du – aber wenn du einmal anrufen würdest...“
 „Tust du es auch bestimmt?“
 Doch, er würde anrufen. Diesmal täte er es bestimmt.
 „Schön…“
Es war schon dunkel, als er sie zu ihrer Schwester fuhr. Während der Fahrt sprachen sie nicht viel, die Keime der Fremdheit drangen bereits durch die frostige Ackerkrume - er ahnte das.
 Sie wollte nicht, daß er vor dem Hause der Schwester hielt, lieber einige hundert Meter entfernt. Es war ein bäuerliches Fachwerkhaus auf einem Hügelkamm, die nächsten Häuser standen über hundert Meter entfernt, und dazwischen war ein Geflecht von Zäunen mit krummen, bemoosten Zaunpfählen, ein an den Rändern überwucherter Feldweg. Stille, hellblaue, durchsichtige Nacht.
 
Alles war still und selbstverständlich da, ebenso saß sie neben ihm im Auto. Es war nichts zu tun und nichts hinzuzufügen. Er kannte wenige solcher Augenblicke. Er nannte es immer so: das Stille und das Selbstverständliche, an dem es nichts zu deuteln gab, das einzige Kennzeichen der Wahrheit, vielleicht auch schon keine Wahrheit mehr, vielleicht nur noch Vorhandensein von Dingen in der Welt.
 Es gab noch einen lieben Kuß und ein munteres „Ich rufe an“ von ihm. Dann ging die schlanke, kleine, wehrlose, gierige, angsterfüllte Frau langsam von ihm weg.
 
 Was würde jetzt geschehen? Würde sie auf ein baldiges Treffen mit ihm hoffen? Er glaubte nicht, daß sie es tat. Sie würde einfach denken, daß es nicht ging, denn sie würde nicht denken wollen, daß er einfach Schwierigkeiten vermeiden wollte, Ärger mit dem Mann, oder der Mann würde kommen und sagen: Sie können sie haben. Alles das würde sie nicht denken wollen, hatte sie nie in ihrem Leben gedacht, darum war sie so lieb geblieben.
 
 Oder ob sie ihrer Schwester etwas erzählen würde? Er konnte sich schon denken wie: Es war ein wunder-, wunderschöner Abend, Blick, Seufzen.
 
 Soweit war nun alles vorüber. Aber während der nächsten Tage dachte er gern daran zurück und dachte oft dabei, daß er, wenn es ohne Schwierigkeiten ginge, solch ein Treffen schon gerne öfter hätte.
 
Da kam ein Anruf von Monika, ihrer Schwester. Als sie sich meldete, wußte er, daß von diesem Abend berichtet worden war.
 
 Ja, sie müsse es ihm ja nun leider sagen. Die Schwester sei an dem Abend noch einmal fortgegangen, sie hätte gesagt, sie müsse ihn noch treffen. Sie sei während der ganzen Nacht nicht wiedergekommen, und am Morgen - spät am Vormittag - habe jemand sie in einer Wiese gefunden.
 
 
 
© 2014 Karl Otto Mühl