Ein abstruses Kapitel deutscher Geschichte

Peter Meier-Hüsing – „Nazis in Tibet“

von Johannes Vesper

Nazis in Tibet
 
Ein abstruses Kapitel deutscher Geschichte
 
Von Immanuel Kant, dem großen Philosophen der Aufklärung, stammt eine erste deutsche Theorie der menschlichen Rasse („Von den verschiedenen Rassen der Menschen" von Immanuel Kant). Der Göttinger Anthropologen Johann Friedrich Blumenbach bezeichnete den weißen Europäischen Menschen als den „Kaukasier“ (1775). Rassismus in Deutschland und Europa ist also keine Erfindung der Nazis. Aber die Klassifizierung der Menschen nach ihren Merkmalen (Schädelform, Körperhaltung, Haarfarbe) mit Unterscheidung minderer und höherer Rassen wurde erst von den Nazis systematisch betrieben. Arthur de Gobineau (1816-1882) publizierte über die Ungleichheit der Menschenrassen und warnte vor ihrer Vermischung. In Ariosophie, Theosophie, Thule-Gesellschaft u.a. wurzelte die obskure und verhängnisvolle völkische Nazi-Ideologie. Daß die Arier aus Indien stammen sollten, wurde mit Ähnlichkeiten der „indogermanischen Sprachen“ begründet. Nicht aus dem Nahen Osten aus Ägypten und Israel, nein aus Indien sollten ihrem Ursprung nach die großen „germanischen“ Nationen Europas stammen. „So finden wir den Gedanken nicht zu ungeheuer, daß die größten Nationen … mittelbar indische Kolonien seien“ dachte sich der deutsche Philosoph der Romantik, Friedrich Schlegel (1772-1829).
 
Das faszinierte auch Ernst Schäfer, der 1910 in Waltershausen/Thüringen geboren wurde. Als Jugendlicher streifte er am liebsten durch den Wald, kam auf der Schule nicht klar, verfiel unter dem Einfluß seines Schuldirektors als 15jähriger der Jagd und studierte nach dem mühsam errungenen Abitur in Göttingen Zoologie. Als 21jähriger nahm er auf Empfehlung seines Professors an einer amerikanischen Expedition zur Erforschung der Grenzregion zwischen China und Tibet teil, schoß Panda-Bären, entdeckte eine Unterart des Blauschafes (Pseudovis nayur schaeferi) und kehrte mit Hunderten von Säugetierfellen und 900 Vogelbälgen in die USA zurück. Tibet wurde sein Sehnsuchtsland. Hier konnte er heroischen Männerträumen in Einsamkeit nachhängen und der Jagdleidenschaft frönen. Mit seinem ersten Buch „Berge, Buddhas und Bären“ wurde er bekannt und trat am 1. November 1933 in Heinrich Himmlers SS ein. Nach einer 2. Tibet-Expedition unter amerikanischer Führung zurück in Deutschland, erregte Schäfer das Interesse Himmlers, der in Tibet Ur-Germanen vermutete, weil er glaubte, daß die nordischen Menschen in Tibet bei einem Mondeinbruch direkt vom Himmel auf die Erde gekommen seien („Welteislehre“). Reste des tertiären Mondmenschen, des Urariers sozusagen, Reste der verschollenen weltumspannenden Atlantis-Kultur vermutete Himmler in Tibet, hatte zur „wissenschaftlichen“ Erforschung dieser Vorstellungen die Forschungsgemeinschaft „Deutsches Ahnenerbe“ gegründet und eine Expedition nach Tibet im Kopf, auch zur Stärkung der deutschen außenpolitischen und wissenschaftlichen Propaganda. Der junge Zoologe Schäfer, begeistert vom Nationalsozialismus und vom fernen Tibet, wurde mit dieser „Deutschen Tibet Expedition unter der Schirmherrschaft des Reichsführers SS“ beauftragt. Man wollte fossile Skelettreste früherer nordischer Tibet-Arier finden bzw. die dortigen Rassenverschiebungen unter besonderer Berücksichtigung der nordischen Rasse erforschen.
 
Über Bengalen und Sikkim reiste die Expedition nach Tibet ein, stellte anthropologische Messungen an, schoß Unmengen an Tieren, sammelte Saatgut und Samen (10 Muli-Ladungen, u.a. die berühmte 60-Tage-Gerste), brachte aber keine frostresistenten Przewalksi-Pferde mit und glaubte Zeichen des noch nicht vom Buddhismus verdorbenen alten, nordischen Tibet zu finden. Schäfer resümierte noch in der letzten Auflage seines Buches „Fest der weißen Schleier“:  „… so leuchtet viel Wesensverwandtes auf, daß man meinen möchte, die Kulturkreise müßten in einer früheren Zeit in inniger Verbindung gestanden haben“. Als seriöse deutsche Wissenschaftler wurden Schäfer und Co. in Lhasa damals nicht wahrgenommen, man schätzte dort aber in Teilen ihre Geselligkeit, ihre Bereitschaft, Feste zu feiern und der „trockenen Tasse“ (Deutsch „Auf Ex“ trinken) zu huldigen. Die sogenannten „anthropometrischen“ Messungen vor allem an jungen Tibeterinnen und ihren Brüsten wurden von den Beteiligten nach der Rückkehr ins Reich bei Selektionen in Auschwitz und bei „anatomischen Studien“ im KZ Natzweiler bzw. an der Universität Straßburg (Prof. Hirth) fortgesetzt. Ein grausiges, unvorstellbares Kapitel deutscher Geschichte unter der Verantwortung deutscher Wissenschaftler und Universitäten.
Ernst Schäfer starb 1992, hatte zuletzt Beiträge im Zentralorgan der Jäger („Wild & Hund“) publiziert und wurde von den deutschen Ornithologen „als bedeutender aber wegen seiner engen Verflechtung mit den rassistischen Forschungsplänen der Nazis auch stark kritikwürdiger Tibetforscher“ bezeichnet.
 
Was soll ein solches Buch heute? Aus dem interessant geschriebenen und gut lesbaren Werk erfährt man viel über die Grundlagen des deutschen Rassismus, dessen Ursprünge zurückreichen bis Kant und Schlegel. Man erfährt Hintergründe und Ursprünge der verkehrten, abstrusen und verbrecherischen Nazi-Ideologie sowie ihre Überbleibsel in heutigen, aktuellen rechten Zirkeln, für die die Bodenintarsien im Obergruppenführersaal der von den Nazis ausgebauten Wewelsburg bei Paderborn immer noch mythische Bedeutung haben. Text und Bilder aus Tibet könnten heutige Touristen in ihrer Tibetfaszination interessieren.

 
 Chandra Bose im Gespräch mit Heinrich Himmler - Foto © Johannes Vesper
 
Nachtrag: Welche Komplexität die indo-germanischen Beziehungen zu Nazi-Zeiten aufwiesen, mag ein Foto illustrieren, welches noch heute in einem Hotel Kalkuttas hängt. Es zeigt Chandra Bose, den Gegenspieler des indischen Freiheitskämpfers Pandit Nehru, bei seinem Besuch bei Himmler in Berlin, den er um Hilfe bei der Bekämpfung der Engländer in Indien bat. Wurde hier Rommels Feldzug geplant, der über Ägypten bis nach Indien vorstoßen sollte, um dort die Engländer anzugreifen? Schon mit Schäfer war eine geheime Kommandosache für Tibet erwogen worden. Aber aus Boses Besuch in Berlin resultierte nur in eine Legion („Freies Indien“) indischer Kriegsgefangener, welche sozusagen als indogermanische Hilfe in Wehrmachtsuniform mit Turban den Kampf gegen die Engländer hier in Deutschland aufnahm.
 
Peter Meier-Hüsing – „Nazis in Tibet“
Das Rätsel um die SS-Expedition Ernst Schäfer
 
© 2017 Theiss Verlag / WBG, 287 Seiten, gebunden, mit Schutzumschlag, mit etwa 30 s/w Abbildungen, Bibliographie - ISBN: 978-3-8062-3438-1
24,95 €
 
Weitere Informationen:  https://www.wbg-wissenverbindet.de