Ein Dilemma

François Armanet – „Bücher für die einsame Insel“

von Frank Becker

Ein Dilemma
 
Für den Buchliebhaber, den passionierten Leser kaum, für den Bibliomanen schon gar nicht zu beantworten ist die schreckliche, ja beinahe grausame Frage: „Welche drei Bücher würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen?“ Ein Dilemma. Könnten Sie sich entscheiden, womöglich sogar spontan? Der Literaturfreund gerät da in eine verteufelte Situation: Wen erwähle ich, wen lasse ich schnöde fallen? Nehme ich Bewährtes mit, oder entscheide ich mich für Ungelesenes, aber längst fälliges? Werfe ich gar literarische Aspekte über Bord und konzentriere mich aufs Überleben, indem ich einen Naturführer, ein Survival-Handbuch oder eine Anleitung zum Bootsbau einpacke (das taten übrigens nur zwei oder drei der Befragten)? Patrick Süskind, der auch Montaignes „Essais“ und Eckermanns „Gespräche mit Goethe“ mitnähme, ist so einer. Er würde vor der Abreise nach einem Band „Wohnen und Kochen auf einer einsamen Insel“ suchen. Sie sehen schon, es ist nicht leicht, milde gesagt. Patrick Chamoiseau bringt es auf den Punkt: „Die Frage ist unmenschlich, denn das literarische Erbe funktioniert nur als Ozean…“, und Jim Harrison bräuchte „mindestens fünfundzwanzig!“
 
Die besagte Frage stellte der französische Journalist François Armanet insgesamt zweihundert Schriftstellern auf der ganzen Welt und schloß grundsätzlich Shakespeare und die Bibel von vornherein aus. Aber mal ehrlich, die sind auch durchaus verzichtbar – nicht für alle Befragten allerdings, denn u.a. Günter Grass oder John Updike nannten sie als substanziell für ihre Auswahl. Auch Shakespeare wurde unter dem Argument „ich lasse mir nicht vorschreiben, was ich auf die Insel mitnehme“, gelegentlich genannt.
Die sich über etliche Jahre erstreckende Umfrage fand ein beachtliches Echo. Ob die beteiligten Autoren immer ehrlich geantwortet haben, soll gar nicht untersucht oder in Frage gestellt werden. Manche Antwort kokettiert mit höherer Bildung, andere wiederum zwinkern deutlich mit dem Auge, wenn z.B. ein Telefonbuch (Umberto Eco) als entscheidend betrachtet wird. Je zwei (Männer) möchten Mark Twains „Huckleberry Finn“ bzw. unbedingt „Tim und Struppi“ von Hergé mitnehmen. Gefällt mir, nicht nur, weil deren Abenteuer sich oft genug in Zivilisationsferne abspielen. Einige Schriftsteller würden ein unbeschriebenes Heft mitnehmen, Nguyen Huy Thiep antwortet schulterzuckend mit der Gegenfrage: „Wozu?“ Einer (Jonathan Franzen) hat den Mut zu bekennen, daß er „den größten Porno, den ich finden kann“ mitnähme. Was die Einsamkeit wohl noch größer machen würde. Eine Schande ist – und gleichzeitig ein Kompliment für ihn – daß nur John le Carré die Werke von P.G. Wodehouse als essentiell erkannt hat.
 
François Armanet Umfrage läßt aber auch ganz wie nebenbei eine „statistische“ Bibliothek der Bücher entstehen, die von einem großen Teil der schreibenden Zunft als das ewige Erbe der Literatur angesehen werden – eine Hitparade sozusagen. Die will ich ihnen im Auszug (alphabetisch nach Autoren geordenet) nicht vorenthalten:

Miguel de Cervantes „Don Quijote“
Joseph Conrad „Herz der Finsternis“
Dante Alighieri „Göttliche Komödie“
Denis Diderot „Jacques der Fatalist“
Edward Gibbon „Verfall und Untergang des Römischen Reiches“
James Joyce „Ulysses“
Gabriel García Márquez „Hundert Jahre Einsamkeit“
Herman Melville „Moby Dick“
Michel Eyquem de Montaigne „Essais“
Robert Musil „Der Mann ohne Eigenschaften“
Marcel Proust „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“
Jonathan Swift „Gullivers Reisen“
Tausendundeine Nacht
Leo Tolstoi „Anna Karenina“ + „Krieg und Frieden“
 
So, und jetzt sind Sie dran.
 
François Armanet – „Bücher für die einsame Insel“
Deutsch von Claudia Steinitz und Angela Volknant
© 2017 Hoffman & Campe Atlantik, 224 Seiten, gebunden - ISBN: 978-3-455-00036-8
15,- € (D), 15,50 € (A), 20,50 sFr
 
Weitere Informationen:  http://www.hoffmann-und-campe.de