Ein Regime und eine Zeit des Schreckens

Frank Dikötter – „Mao und seine verlorenen Kinder“

von Robert Sernatini

Ein Regime und eine Zeit
des Schreckens
 
Mao Zedong und die Kulturrevolution
 
Historisch interessierte Leser seien gewarnt: Dieses minutiös recherchierte Buch ist ein schonungsloses Dokument fürchterlichster Verbrechen an Körper und Seele des zahlenmäßig größten Volks der Welt, an dessen Jahrtausende alter Kultur und Philosophie. China unter Mao Zedong (Mao Tse –Tung) war für Jahrzehnte den Machtspielen des „Großen Vorsitzenden“ und der intriganten, speichelleckenden Clique um ihn hilflos ausgesetzt. Bürger wurden gegen Bürger aufgehetzt, Verunglimpfungen, politische Verdächtigungen und beinahe tägliche 180 Grad Wendungen ließen das politische Parkett zu einem oft tödlichen Seiltanz werden. Das System hatte Mao sich von dem heiß verehrten Josef Stalin abgeguckt, der aberwitzige Personenkult, das Dogma der Unfehlbarkeit, das permanente Mißtrauen und die gottgleiche Verehrung Maos entsprachen dem sowjetischen Vorbild.

Genau wie dort führten gigantische Planungsfehler, fatale Mißwirtschaft und politische Ignoranz zu untragbaren wirtschaftlichen Verhältnissen. Eine bemerkenswerte Parallele zu Stalin und dem Sowjetreich. Der in beiden Riesenstaaten gepredigte Kommunismus und seine Planwirtschaft funktionierten nicht. Als sich nach Stalins Tod 1953 in der Sowjetunion der Wind drehte und aus Moskau keine weitere wirtschaftliche Unterstützung kam, stürzte das Land in eine bevölkerungspolitischen Katastrophe, die mindestens 10 Millionen von Chinesen in den Hungertod und den Tod durch Folter brachte.
Natürlich übernahm keiner der Schuldigen der KPCh die Verantwortung, am wenigsten Mao, sein langjähriger Premier Zhou Enlai oder das Wende-Wunder Deng Xiaoping, der nach Maos Tod das Ruder übernahm. Mit immer neuen Schachzügen, Kampagnen und Propagandakriegen wurde das Volk in Atem gehalten und verunsichert. Zum Erhalt ihrer Macht riefen Mao und die Kommunistische Partei Mitte der Sechziger Jahre die „Kulturrevolution“ aus, bei der von 1966 bis 1968 fanatisierte Schüler und Studenten das Land, vor allem die Hauptstadt Peking mit blutigem Terror, körperlicher und seelischer Gewalt, mit Mord, Raubzügen und der Zerstörung unersetzlicher Kulturgüter überzogen. Frank Dikötter erläßt dem Leser kein Detail dieser widerwärtigen Vorgänge. So erschütternd und grausam es auch ist, muß man es als Warnung vor falschen Dogmen und der Verführung radikalisierter Gruppen sehen und ernst nehmen. Denunziation, der Glaube an falsche Ideale und die Verführbarkeit vor allem junger Menschen ist nicht aus der Welt zu schaffen, beugt man dem nicht durch humanistische und demokratische Erziehung vor.

Was die Nazis in Deutschland und Europa zwischen 1933 und 1945 mit ihrer Macht- und Rassenpolitik angerichtet haben, was der Kommunismus der Sowjetunion in seinem Riesenreich und seinen Satellitenstaaten von 1917 bis 1986 an Verbrechen begangen hat und was sich im kommunistischen China von 1949 bis zu Maos Tod 1976 abgespielt hat, darf nicht aufgrund aktueller Verbesserungen aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden. Wir sehen ja heute am Beispiel des radikalisierten Islam mit seinen Taliban, IS und Salafisten, was auch in einer aufgeklärten Welt möglich ist, wenn junge Menschen von machtbesessenen Alten für ihre Zwecke, ob politisch oder religiös, verführt und mißbraucht werden. Man sieht, wie leicht es anscheinend ist, mit falschen Dogmen in die Gehirne einzudringen und aus Kindern Mörder zu machen.
China hat durch die Kulturrevolution, in der Chinesen mit staatlicher Duldung und Förderung Chinesen Gewalt antaten, eine Generation fast vollständig verloren. Das Grauen dieser Zeit wird niemals aus den Köpfen zu tilgen sein. Es muß als ewiges Menetekel gelten. Mao und seine verlorenen Kinder“ ist in diesem Zusammenhang ein wichtiges Buch.
 
Frank Dikötter – „Mao und seine verlorenen Kinder“
Chinas Kulturrevolution
Aus dem Englischen von Jörn Pinnow und Marlies Glaser.
© 2016 Theiss Verlag – WBG 414 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, mit 1 Karte, 10 s/w Abb., umfangreicher Bibliographie und detailliertem Register - ISBN: 978-3-8062-3384-1
Preis: € 39,95[D]
 
Weitere Informationen:  www.theiss.de