Bomben-Angriff

von Karl Otto Mühl

Foto: United Kingdom Government

Bomben-Angriff
 
Vorhin saß ich in meinem Arbeitszimmer, als Freund Tim eintraf. Er brachte handgeschriebene Betrachtungen mit, die ich heute Abend lesen will. Er ist Sechsundsiebzig, aber mit seinem kräftigen, braunen Haar hat er das Gesicht eines jungen Mannes. Nicht nur das Gesicht ist jugendlich, auch die Muskeln sind es.
Wir sprachen über tausend Dinge, implizit aber auch immer darüber, wie man leben soll. Beim konsequenten Zu-Ende-Denken wären wir da angekommen, wo nach meiner Erinnerung nach auch Thomas Mann an irgendeiner Textstelle ankam: Keiner kann es uns sagen.
Aber dann fragte ich ihn wieder einmal nach den Umständen, unter denen seine Mutter und sein Bruder umgekommen waren, und er erzählte sie mir aufs Neue, diesmal genauer.
 
Es war im Kriege, bereits 1945, als der Bombenangriff auf Tims Heimatstadt Karlsbad erfolgte. Er war mit Mutter, Oma und Bruder im Luftschutzkeller, während sie ringsumher das widerliche Geräusch der Einschläge hörten und spürten. Gerade ihr Stadtteil Fischern wurde mehrfach angegriffen.
 „Ich stelle mir manchmal vor, ich stände auf dem Ulmer Münster und ließe einen Ziegelstein auf die Menschen auf dem Platz da unten fallen. Das wäre doch ein grauenhaftes Verbrechen, nicht wahr? Und nun sind da Menschen, die in sechstausend Meter Höhe die Stahlbehälter, die mit Sprengstoff gefüllt sind, auf die Menschen fallen lassen. Nach einem teuflischen System kombinieren sie Brandbomben mit Sprengstoffbomben. Ist das überhaupt vorstellbar?“
Zuerst wurden die Sprengbomben geworfen, die die Häuser aufbrachen, dann folgten die Brandbomben, die die Häuser verbrannten. Dieses System, von „Bomber Harris“ erdacht, zog die größten Verwüstungen nach sich.

Die Bombe traf Tims Wohnhaus. Gleichzeitig mit dem berstenden Geräusch spürte er, wie er mit einem Schlag in Schutt eingepackt war und sich nicht mehr rühren konnte. Er meinte zu ersticken.  
Im Dunkel die Stimme der Mutter, die den Bruder auf dem Schoß hatte: „Der Jochel ist schon kalt.“
Tim war kurz vor dem Einschlag von der Bank aufgestanden und hatte sich ein Stück näher zur Oma gesetzt. Das rettete ihm das Leben.  Auf beide fiel eine Türe herab, die den Rücken und teilweise den Kopf vor den herabstürzenden Steinen schützte. Dennoch erlitten beide Schädelverletzungen. Die Nachbarin sagte später, sie habe die Oma mit ihrem blutüberströmten Gesicht nicht erkannt. Tim konnte die Schultern nur scheinbar ein wenig heben, in Wahrheit waren sie es, die nachgaben.
Draußen hörten sie die Stimmen der Nachbarn. „Die sind alle tot“, hörte Tim jemand sagen. Er hörte auch, wie die Leute weggingen. Sein Schreien hörten sie nicht.
Nur Zwei waren oben in den Nähe geblieben, der Großvater und der Nachbar. Der Großvater redete ununterbrochen mit ihnen, obwohl er sie nicht hörte. Während er mit bloßen Händen grub, redete er immer weiter.
Nach einigen Stunden wurden sie ausgegraben. Jochel war tot, die Mutter kam ins Krankenhaus, wo sie nach einigen Tagen an ihren inneren Verletzungen starb.  Der kleine Jochen in ihrem Schoß war in sie hinein gedrückt worden.
 
Tim hat kaum eine Erinnerung an den Augenblick, als er durch ein Loch im Mauerwerk ins Freie gezerrt wurde. Die Oma nahm ihn zu sich, der Vater kümmerte sich um ihn, so gut es ging.
Für einen Moment haben Tim und ich uns stumm angesehen. Die Welt hält mehr für uns bereit, als wir ertragen können.
 

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2015 Karl Otto Mühl