Notizen

Aus dem Tagebuch

von Erwin Grosche

Foto © Harald Morsch
Notizen

Mülleimer
Mein Nachbar Herr Wagner hat den falschen Mülleimer herausgestellt. Nach meinem Abfallbeseitigungs-Plan wird heute das Papier in der blauen Tonne abgeholt. Mein Nachbar hat aber die gelbe Tonne mit dem Plastikmüll vor seine Tür gerollt. Natürlich hätte ich bei ihm klingeln können, um ihn umständlich und oberlehrerhaft von seinem Irrtum zu unterrichten, aber schließlich hatte ich eine bessere Idee. Ich ging hinter das Haus und schob auch die gelbe Mülltonne nach vorne. Ich möchte Herrn Wagner in seinem Irrtum unterstützen. Wer sind wir denn, daß wir wie die Lemminge immer funktionieren müssen? Wie erstaunt war ich, als ich später sah, daß ich nicht der einzige war, der auch seine gelbe Tonne vor das Haus gestellt hatte. Die gesamte Straße machte bei diesem Aufschrei der Anständigen mit, und alle hatten auch ihre gelben Mülltonnen hervorgeholt. Ich war stolz auf meine Nachbarn. Ich stellte mir das Gesicht des Müllfahrers vor und war gespannt darauf, wie er handeln würde.
 
Außenstehende
Wir Außenstehenden erkennen uns mit einem Blick. Wir stehen außen und würden gerne dort stehen, wo die anderen Außenstehenden eine Heimat gefunden haben. Nein, nein, wir stehen Außen. Dort stehen wir seit Jahrhunderten und blicken sehnsuchtsvoll auf das Leben der anderen. Manche haben später sogar Familien und schieben fremde Babys durch die Gegend, andere gehören einem Verein an, und singen bei sonderbaren Liedern die zweite Stimme. Aber Außenstehende sind nie jemandem nah. Sie stehen außen und fragen sich, wann denn endlich dieser Zustand vorbei sein wird. Außenstehende sind aber unsterblich und überdauern die Kulturen und Kriege. Sie können manchmal erlöst werden durch die Liebe eines Hundes oder eines anderen unschuldigen Wesens. Ansonsten warten sie auf ihre Aufgabe und wissen, daß sie dafür auf die Welt geschickt wurden. Manche entdecken nie ihre Existenzberechtigung und verzweifeln daran.
 
Blumen
Ist es sinnvoll, Blumen in einen dunklen Raum zu stellen? Können Blumen ihres Aussehens beraubt, nur durch ihren Duft überzeugen? Ist es ungewöhnlich, daß Blumen nicht einladen sie zu berühren?
Ist das der Fluch der Distel? Die Hinterlassenschaft der Brennnessel?
 
Kälte
Die Kälte wird von vielen nicht gemocht, selbst wenn sie passend angezogen sind. Eine gewisse Kälte kann auch folgerichtig sein, wenn zwei Menschen sich nicht mehr verstehen und dementsprechend voneinander los wollen. Die Kälte im Januar ist eine andere Kälte als im April. Konrad Zusinger mochte immer eine gewisse Kälte beim Liebesspiel. Er lehnte es immer ab, ganz aus sich herauszugehen. Daß die Kälte nicht die Population von Zecken stört, ist sehr enttäuschend. Gott wurde mal gefragt, warum es die Kälte gibt und er antwortete sinngemäß, damit man sich ein Leben ohne ihn vorstellen könnte.
 
 
 
© Erwin Grosche