Ein Weg aus freien Stücken

Eine Erzählung

von Safeta Obhodjas

Safeta Obhodjas - Foto © Angelika Zöllner
Ein Weg aus freien Stücken
 
von Safeta Obhodjas
 
Zwar wußten Aylas Eltern von Anfang an, daß sie seit einem Jahr mit Fuat im Internet oder per Skype kommunizierte, aber er wurde von ihnen nur als ein Phantom-Freund wahrgenommen. Ohne Kommentar erfüllten sie ihr den Wunsch, beim Goethe-Institut Deutsch zu lernen und betrachteten das nur als noch eine weitere Macke ihrer eigensinnigen Tochter.
Ein Phantom! Von wegen. Eines Tages kündigte Ayla den Besuch ihres Freundes an. Immer noch konnten sich ihre Eltern nicht vorstellen, daß dieser Deutschtürke aus dem Internet eine reale Person war.
Er sei siebenundzwanzig, arbeite als Manager einer großen Firma in Deutschland und er befände sich auf seiner ersten Geschäftsreise in Istanbul, hatte Ayla erklärt. Die beiden hätten lange auf diese Chance gewartet, sich endlich persönlich kennen zu lernen, klärte Ayla ihre Eltern auf und fügte stolz hinzu, daß er seine guten Sprachkenntnisse ihr zu verdanken habe. Die Telefonate mit ihr und die ausgetauschten E-mails hatten ihm geholfen, Türkisch richtig zu erlernen. Seine Zweisprachigkeit hatte ihm dann diesen guten Job verschafft. Damit konnte sie ihre Eltern nicht beeindrucken, einstimmig lehnten sie ab, einen Fremden aus dem Westen in ihrem Haus willkommen zu heißen. „Ihr habt mich als Baby in dieses Land der Frauenhasser mitgebracht, ich konnte mich nicht dagegen wehren. Wenn ihr schon vor dem Krieg in Bosnien geflohen seid, warum nicht Richtung Westen, wie alle anderen, zivilisieren Menschen. Mein Freund Fuat lebt in Europa, in Deutschland, und ich will zu ihm. In seinem Land sind Frauen frei, hat er mir erzählt, frei ihr Leben selbst zu bestimmen. Das will ich auch.“ Wenn immer sich Ayla eingeengt fühlte, rüttelte sie mit solchen Argumenten an dem schlechten Gewissen der Eltern.
Bis tief in die Nacht lauschte sie dem Flüstern aus dem Schlafzimmer der Eltern und hoffte auf ein günstiges Ergebnis der späten Beratung. In den langen schlaflosen Stunden bis zur Morgendämmerung betete sie: „Lieber Allah, öffne mir einen Weg nach Europa, tu es durch Fuat Kacer. Bitte, bitte!“
Der Gott schien ein gutes Gehör und viel Barmherzigkeit zu haben. Am Morgen teilten die Eltern Ayla mit, daß sie ihren Freund zum Abendessen einladen möchten. Wenn er schon kein Phantom mehr war, dann sollte ihr Treffen mit ihm unter ihrer Aufsicht stattfinden.
 
Der junge Mann war geschäftstüchtig und hatte viele Termine in Istanbul, aber er schaffte es, Ayla und ihre Familie zwei Mal zu besuchen. Während der Besuche saugte das Mädchen alles auf, was er vom Leben der Musliminnen in dem fremden westlichen Land erzählte. Immer wieder, wenn sie dieses Thema ansprach, betonte er, daß die Frauen in seiner Familie sehr stark seien und niemandem erlaubten, sie herumzukommandieren. Seine Mutter und Schwester hätten sogar an einer von den Deutschen organisierten Demo teilgenommen, die sich gegen eine radikale Gruppierung gerichtet hatte. Ayla verstand zwar nicht gegen wen und was sie protestiert hatten, sie hörte nur, die Frauen hätten das aus eigener Entscheidung getan.
Obwohl sich Fuat sehr anständig benahm und Ayla respektvoll behandelte, konnte er damit bei ihren Eltern nicht richtig punkten. „Ich habe das Gefühl, das ist nicht sein wahres Gesicht, was er uns da präsentiert hat,“ lautete das Urteil ihrer Mutter, aber das Mädchen stellte sich taub.
Beim ersten Skype-Gespräch nach seinem Besuch lud Fuat Ayla nach Deutschland ein. Ihre Gastgeberin sollte seine ältere Schwester Merve sein, die rebellische, die bei einer politischen Demonstration mitmarschiert war.
Ayla reagierte euphorisch und krempelte ihren Alltag um. Sie vernachlässigte ihr Kunststudium und lernte noch intensiver Deutsch. Gerade in dieser Zeit gingen die Proteste gegen die Willkür der Regierung in Istanbul los, eine willkommene Möglichkeit, ein Praktikum in europäischer Demokratie zu absolvieren. Mit einer Gruppe Studenten lief sie drei Tage hintereinander zum Taksim-Platz, wo sie ein paar Stunden unbewegt dastand, glücklich ihren eigenen Mut auskosten zu dürfen. Prompt bekam ihr Vater per Handy ein Bild von ihr als schweigende Demonstrantin. Am Abend machte er ihr die Hölle heiß. „Die Prügelknechte hätten dich wie viele andere zum Krüppel schlagen oder dich mit Tränengas vergiften können. Noch schlimmer wäre es gewesen, wenn sie dich verhaftet hätten. Man munkelt, in den Polizeirevieren werden Frauen vergewaltigt. Wer kann uns dann helfen, wir sind immer noch fremd in diesem Land.“
Nachdem die Liste der Horrorvorstellungen ihrer Eltern erschöpft war, erwiderte Ayla mit vorgetäuschter Ruhe: „Ihr habt Recht, das alles hätte mir passieren können. Seht ihr nicht, daß nur Fuat mich aus diesem schrecklichen Land retten kann?“
 
Die junge Frau blieb mehrere Tage im Hause eingesperrt, während ihre Eltern nach einer Lösung suchten. Am Ende riefen sie eine Kusine mütterlicherseits an, die in der Nähe von Düsseldorf lebte. Sie schuldete ihnen etwas, weil sie samt ihrer ganzen Familie bereits drei Mal bei ihnen zu Gast gewesen war. Die Verwandte reagierte wie erwartet und bot Ayla Unterkunft und Verpflegung an. Diese wohlgemeinten Sicherheitsvorkehrungen der Eltern konnte Ayla trotz eigener Bedenken  nicht ablehnen, weil sie ihnen dann die Wahrheit über den Onkel hätte sagen müssen. Denn jedes Mal wenn das Ehepaar aus Düsseldorf in ihrem Haus verweilt hatte, hatte er versucht sie anzufassen und zu belehren, wie berauschend die Küsse eines echten Mannes sein konnten. Die junge Frau hasste diese Kusine und ihren Gatten, dennoch hätte sie sich lieber ihre Zunge durchgebissen, als den Eltern davon zu erzählen. Sie schämte sich dafür, daß so eine Schande in ihrer Familie möglich war.
Während des Wartens auf ein Visum wurden die Gespräche zwischen den jungen Leuten intensiver. Fuat betonte immer wieder, er würde sie respektvoll behandeln, als wären sie schon verlobt. Eine Heirat gehörte zwar nicht zu Aylas Zukunftsträumen, aber wenn sie die einzige Möglichkeit bot, ein freies Leben in einem freien Land zu führen, dann musste sie so etwas in Kauf nehmen.
Er versprach ihr, sie am Flughafen zusammen mit Schwester und Mutter abzuholen. Von der Verwandten, die den Quartierauftrag ihrer Eltern hatte, berichtete sie ihm nicht. „In Deutschland entkomme ich der Sorge meiner Lieben. Ich werde die Kusine begrüßen und ihr offen sagen, daß ich Fuat vertraue und bei seiner Schwester wohnen möchte“, dachte sie.
 
Als sie nach der Landung zu dem jungen Mann beim Ausgang eilte, war sie sicher, das glücklichste Mädchen der Welt zu sein. Eine Sekunde später aber wurde sie stutzig, weil er offenbar alleine gekommen war, obwohl er beteuert hatte, seine Mutter und Schwester mitzubringen. Zwei Frauen in langen Mänteln und mit schwarzen Kopftüchern, die mit Abstand hinter ihm standen, nahm sie nur flüchtig und ein bißchen irritiert wahr. So ein Bild entsprach nicht ihrer Vorstellung von europäischer Zivilisation. „Warum ist er alleine? Hat mich seine Familie etwa abgelehnt? Was mache ich jetzt?“
In seinem eleganten Anzug machte Fuat eine gute Figur. Sein Blick aber musterte sie kritisch und schien an ihren langen, dunkelblonden Haaren zu kleben. Sie nährte sich ihm langsam, verängstigt durch seine versteinerte Miene.
„Ayla, ich dachte, du würdest von alleine darauf kommen. Es ist meine Schuld, ich hätte dir das sagen sollen. Meine Mutter und meine Schwester Merve“, stellte er ihr die Frauen in den langen Mänteln vor. „Hab' aber keine Sorgen, sie werden sich um dich kümmern. Und sie haben mehrere Geschenke für dich.“
Die jüngere Frau mit den geschickt geschminkten Augen zog eine Tüte aus ihrer Tasche.
„Willkommen! Unsere Schwester, ich freue mich, dich endlich kennenzulernen. Fuat hat uns so viel von dir erzählt. Und von deiner Familie. Komm mit! Es gibt dort an der Ecke einen Raum mit Spiegeln. Alle Frauen in unserer Familie, glaub mir, alle haben sich aus freien Stücken entschieden, sich den Sitten entsprechend zu kleiden. Du kannst die Farbe wählen: schwarz, dunkelblau, dunkelrot. Das dunkelblaue mit Spitze würde gut zu deinen Augen passen. Mit diesem Kopftuch wird dich mein Bruder noch mehr lieben...“
 
 
©  Safeta Obhodjas