Das Gedicht vom Haschisch

von Charles Baudelaire

Das Gedicht vom Haschisch
Für J. G. F.
 
Liebe Freundin, der gemeine Verstand sagt uns, daß die Dinge der Erde nur wenig Dasein haben, und daß es Wirklichkeit nur in den Träumen gibt. Um sowohl das natürliche Glück als das künstliche verdauen zu können, muß man zunächst den Mut haben, es zu verschlucken; und die vielleicht dieses Glück verdienen, denen ist die Glückseligkeit, wie sie die Menschen verstehen, immer als Brechmittel erschienen.
Törichten Köpfen wird es merkwürdig und sogar frech erscheinen, daß das Gemälde einer künstlerischen Wollust einer Frau gewidmet wird, die die üblichste Quelle der natürlichsten Wollust ist. Immerhin ist es klar, daß, wie die natürliche Welt in die geistige eindringt, ihr als Weideplatz dient, und so hilft, diese unbeschreibliche Mischung zu gestalten, die wir unsere Individualität nennen, die Frau das Wesen ist, das in unsere Träume den größten Schatten oder das größte Licht wirft. Die Frau ist von einer gefährlichen Suggestivität; sie lebt ein anderes Leben als ihr eigenes; sie lebt geistig in den Erfindungen, die sie schafft und befruchtet.
Im übrigen ist es überflüssig, daß der Grund dieser Widmung verstanden werde. Ist es denn für die Zufriedenheit des Verfassers überhaupt nötig, daß irgendeins seiner Bücher von einem anderen verstanden werde als von dem oder der, für die es verfaßt wurde. Ist es schließlich unbedingt nötig, daß er überhaupt für jemanden geschrieben hat? Ich selbst habe so wenig Freude an der lebendigen Welt, daß ich gleich diesen sensiblen und müßigen Frauen, die, wie man sagt, Briefe voller Geständnisse erdachten Freundinnen schicken, gern nur für die Toten schriebe.
Aber nicht einer Toten widme ich dieses Buch; ich widme es einer, die, wenn schon krank, immer in mir tätig und lebendig ist, und die jetzt all ihre Blicke dem Himmel zuwendet, diesem Ort aller Transfiguration. Denn das menschliche Wesen genießt das Privileg, ebenso wie aus einer gefährlichen Droge, sogar aus dem Schmerz der Katastrophe und dem Unglück neue und subtile Freuden ziehen zu können.
In diesem Gemälde wirst Du einen finsteren und einsamen Wanderer sehen, untergetaucht in der bewegten Flut der Vielheiten, der sein Herz und seine Gedanken einer fernen Elektra sendet, die unlängst ihre schweißgebadete Stirn abtrocknete und ihre vom Fieber trockenen Lippen erfrischte; und Du wirst die Dankbarkeit eines anderen Orestes erraten, dessen Alpdrücken Du oft belauschtest und den Du mit leichter und mütterlicher Hand vom furchtbaren Schlaf erlöstest.

C. B.
 
(…)
 
Was ist der Haschisch?
 
Die Berichte Marco-Polos, die man, wie die einiger anderer alter Reisender, zu Unrecht verspottet hat, sind von den Gelehrten nachgeprüft und als glaubwürdig befunden worden. Ich werde ihm nicht nacherzählen, wie der Alte vom Berge in einem köstlichen Garten seine jüngsten Schüler einschloß, denen er, sozusagen als flüchtige Belohnung für einen passiven und unbedachten Gehorsam, einen Eindruck vom Paradiese verschaffen wollte, nachdem er sie mit Haschisch trunken gemacht hatte. (Von wo Haschischins oder Assassins kommen)
Der Leser kann bezüglich der geheimen Organisation der Haschischins das Werk Hammers und die Memoiren von Sylvestre de Sacy nachlesen, die im Band XVI des Mémoires de l'Académie des Inscriptions et Belles-Lettres enthalten sind, und bezüglich der Etymologie des Wortes „Assassins“ dessen Brief an den Herausgeber des Moniteur in Nummer 359 des Jahrganges 1809. Herodot erzählt, daß die Skythen Hanfkörner sammelten, auf die sie heiße Steine warfen. Das bedeutete für sie gleichsam ein Bad, dessen Dampf wohlriechender war als der griechischer Badestuben, und ihnen ein so heftiges Vergnügen bereitete, daß sie Freudenschreie ausstießen.
In der Tat kommt der Haschisch aus dem Orient. Die erregenden Eigenschaften des Hanfes waren im alten Ägypten wohlbekannt und sein Gebrauch ist unter verschiedenen Namen in Indien, Algerien und Arabien stark verbreitet, aber wir finden auch bei uns unter unseren Augen merkwürdige Beispiele durch pflanzliche Ausdünstung hervorgerufener Trunkenheit. Ohne von den Kindern reden zu wollen, die oft einen merkwürdigen Schwindel empfinden, wenn sie in frisch gemähter Luzerne spielten und sich wälzten, weiß man, daß während der Hanfernte männliche und weibliche Arbeiter ähnliche Wirkungen verspüren; man möchte sagen, daß aus der Ernte ein Miasma aufsteigt, das hinterlistig ihr Gehirn verwirrt. Der Kopf des Mähers ist wie durcheinandergewirbelt, oft von Träumen beladen. In gewissen Augenblicken werden die Glieder schwach und versagen den Dienst. Wir hörten oft von ziemlich häufigen mondsuchtsartigen Anfällen russischer Bauern, deren Ursache, wie man sagt, im Gebrauch des Hanföles bei der Nahrungsbereitung liegen soll. Wer kennt nicht die Tollheit der Hühner, die Hanfkörner gefressen haben, und die feurige Begeisterung der Pferde, die die Bauern bei Hochzeiten und kirchlichen Festen zu einem Wettrennen vorbereiten, indem sie ihnen oft in Wein getauchten Hanf vorwerfen?
Indessen ist der französische Hanf zur Haschischbereitung oder nach vielfachen Erfahrungen wenigstens dazu ungeeignet, eine dem Haschisch an Kraft gleichwertige Droge zu ergeben. Der Haschisch oder indische Hanf, Cannabis indica, gehört zu der Familie der Urticeen und ist ganz ähnlich dem Hanf anderer Klimate, nur daß er nicht dieselbe Höhe erreicht. Er besitzt außerordentlich berauschende Eigenschaften, die seit einigen Jahren in Frankreich die Aufmerksamkeit der Gelehrten und Weltleute auf sich gezogen haben. Er wird mehr oder weniger seiner Heimat nach geschätzt. Der bengalische ist der von Liebhabern bevorzugte; indessen haben der ägyptische, türkische, persische und algerische dieselben Eigenschaften, wenn auch in etwas geringerem Grade.
Der Haschisch (oder Gras, das heißt Gras an sich, als hätten die Araber mit dem einen Wort „Gras“ die Quelle aller geistigen Genüsse bezeichnen wollen) trägt nach seiner Zusammensetzung und Zubereitungsart, die er im Lande seiner Ernte erfuhr, verschiedene Namen: in Indien: Bangi, in Afrika: Teriaki, in Algerien und Arabien: Madjoud usw. Es ist nicht gleichgültig, während welcher Jahreszeit man ihn pflückt; in seiner Blüteperiode ist er am kräftigsten. Die blühenden Spitzen sind infolgedessen die einzigen Teile, die bei den verschiedenen Zubereitungen verwertet werden, über die wir einige Worte zu sagen haben.
Der Fettextrakt des Haschisch, wie ihn die Araber bereiten, entsteht, indem man die Spitzen der frischen Pflanzen in Butter mit ein wenig Wasser kochen läßt. Nach vollständiger Verdampfung aller Feuchtigkeit passiert man ihn und erhält so eine Masse, die wie eine gelbliche Pomade aussieht und einen unangenehmen Geruch von Haschisch und ranziger Butter behält. Man nimmt ihn in dieser Form in kleinen Kügelchen von zwei bis vier Gramm ein; aber wegen seines üblen Geruchs, der mit der Zeit zunimmt, verarbeiten die Araber den Fettextrakt in Konfitüren.
Die gebräuchlichste Art dieser Konfitüren, das Davamesk, ist eine Mischung aus Extrakt, Zucker und verschiedenen aromatischen Kräutern, wie Vanille, Zimt, Pistazie und Muskat. Mitunter setzt man selbst ein wenig Kanthariden zu einem Behufe zu, der nichts gemein mit den üblichen Wirkungen des Haschisch hat. In dieser neuen Form hat der Haschisch nichts Unangenehmes und man kann ihn in Dosen von 15, 20 und 30 Gramm, sei es in einer Oblate, sei es in einer Tasse Kaffee einnehmen. Die Versuche von Smith, Gastinel und Decourtive hatten den Zweck, das aktive Prinzip des Haschisch zu entdecken. Trotz ihrer Bemühungen blieb seine chemische Zusammensetzung doch ziemlich unbekannt. Für gewöhnlich schreibt man seine Eigenschaften einer harzigen Masse zu, die er ziemlich stark dosiert in einem Verhältnis von etwa zehn Prozent enthält. Um dieses Harz zu gewinnen, zerstampft man die getrocknete Pflanze in grobes Pulver und wäscht sie mehrmals mit Alkohol, den man nachher destilliert, um ihn teilweise herauszuziehen; man läßt das Ganze bis zur Extraktzähigkeit verdampfen. Diesen Extrakt behandelt man mit Wasser, das die klebrigen, fressenden Bestandteile auflöst, und so bleibt das reine Harz übrig.
Dieses Produkt ist weich, von dunkelgrüner Farbe und besitzt in hohem Masse den charakteristischen Haschischgeruch. Fünf, zehn und fünfzehn Zentigramm genügen, um erstaunliche Wirkungen hervorzurufen. Aber der Haschisch, den man in Form von Schokoladenplätzchen oder kleinen Ingwerpillen sich zuführen kann, zeitigt wie der Davamesk und der Extrakt mehr oder weniger heftige Wirkungen, die je nach dem Temperament der einzelnen Esser und ihrer nervösen Empfindlichkeit verschieden sind. Besser noch, die Wirkung wechselt bei der gleichen Person. Bald ist sie eine unmäßige und unwiderstehliche Heiterkeit, bald ein Gefühl von Wohlbefinden und Lebenskraft, ein andermal ein traumdurchwobener Halbschlaf. Indessen gibt es Phänomene, die sich ziemlich regelmäßig wiederholen, hauptsächlich bei Personen gleichen Temperaments und gleicher Erziehung; dies gibt der Verschiedenheit jene gewisse Gleichheit, die es ermöglicht, ohne allzu große Mühe die Monographie des Rausches, die ich vorhin erwähnte, zu verfassen.
In Konstantinopel, Algerien und selbst in Frankreich rauchen einige Personen mit Tabak vermischten Haschisch; aber in diesem Falle treten die fraglichen Phänomene nur in sehr gemilderter und sozusagen steifer Form auf. Ich habe gehört, daß man kürzlich auf dem Destillationswege aus dem Haschisch ein lösbares Öl gezogen hat, das viel stärkere Wirkungen hervorbringen soll als alle bisher bekannten Präparate; aber man hat es noch nicht genügend erprobt, als daß ich mit Gewißheit über seine endgültigen Wirkungen sprechen könnte. Es ist wohl übrig hinzuzufügen, daß Tee, Kaffee und Liköre mächtige Hilfsmittel sind, die mehr oder weniger das Erblühen dieses mystischen Rausches fördern.
 
C.B.

Charles Baudelaire starb vor 150 Jahren.