Die Fluchten deutscher Jüdinnen ins Exil

Kristine von Soden, „Und draußen weht ein fremder Wind...“

von Jürgen Koller

Bleiben oder gehen –
Heimat oder Exil
 
Die Fluchten deutscher Jüdinnen ins Exil
 
Der AvivA Verlag in Berlin hat es sich seit zwei Jahrzehnten zur Aufgabe gemacht, Literatur aus der Feder von Frauen, besonders jüdischer Autorinnen aus den zwanziger Jahren, neu zu verlegen oder erstmalig herauszubringen. Deshalb hat sich Kristine von Sodens Buch – teils Dokumentation, teils freier literarischer Text - „Und draußen weht ein fremder Wind...“ / Über die Meere ins Exil – gut in das Verlagsprofil von AvivA eingefügt, übrigens reich bebildert und vorzüglich gestaltet. Von Soden, gebürtige Hamburgerin, bekannt als Featureautorin des NDR und DLF, hat sich intensiv mit den Biografien jüdischer Wissenschaftlerinnen, Schriftstellerinnen und Künstlerinnen in den Jahren der Weimarer Republik beschäftigt. Da lag es nahe, das Schicksal einiger dieser deutschen Jüdinnen in der Zeit nach der Machtergreifung der Nazis 1933 zu verfolgen. Es ist ein Buch entstanden, das die Leserin, den Leser tief berührt, betroffen macht, zugleich aber auch in den Bann zieht, und wenn man will, gewisse Parallelen zu den gegenwärtigen Flüchtlingswellen in Richtung Europa zuläßt. Aber einen gewaltigen Unterschied darf man nicht übersehen – in den dreißiger Jahren wurden diese deutschen Jüdinnen und Juden nicht nur intellektuell stigmatisiert, gingen sie ihrer politischen, beruflichen und persönlichen Rechte als Deutsche durch die NS-Machthaber verlustig, sondern waren als Volksgruppe unmittelbar an Leib und Leben bedroht. Der Weg ins Exil in fremde Länder war keine Flucht aus wirtschaftlichen Erwägungen. „Juden können keine deutschen Reichsbürger sein“, „es gibt keine deutschen Juden, nur Juden in Deutschland“, so das Credo der Nationalsozialisten.
 
Kristine von Soden hat nicht nur die Schicksale prominenter jüdischer Emigrantinnen nachvollzogen, wie der Dichterin Mascha Kaléko, der Schauspielerin Ruth Klinger, der Journalistin Gabriele Tergit oder der Berliner Kinderärztin Hertha Nathorff, sondern auch weniger bekannter Schriftstellerinnen und Künstlerinnen. Die Titelzeile ihres Buches stammt aus einem Gedicht von Lessi Sachs. Der Fokus der Buchautorin ist neben der schicksalsträchtigen Frage 'Bleiben oder gehen' auch auf das Prozedere der erzwungenen Ausreise ins Exil gerichtet: Von welchen Häfen fuhren welche Schiffe wohin, wer half bei der Beschaffung der Visa, der Affidavids und der Schiffsbilletts, wie konnte Gepäck befördert werden, wo konnte fachkundige Hilfe für den Umgang mit den NS- Behörden eingeholt werden und letztlich, wer gab finanzielle Unterstützung für weniger gut betuchte Jüdinnen und Juden?
Die nach 1933 immer rigorosere antijüdische Entrechtungspolitik ging einher mit einer Verstärkung der schikanösen Ausreise-Erschwernisse durch das NS-Regime in den Mitt-Dreißigern bis zum absoluten Ausreiseverbot 1942. Die Autorin belegt anhand ihrer Recherchen im Deutschen Exilarchiv 1933 bis 1945 in der Deutschen Nationalbibliothek, wie das Regime vermögende, aber auch weniger begüterte Jüdinnen und Juden mittels der „Reichsfluchtsteuer“ ausplünderte. Dazu kam eine exorbitante Abschottungspolitik der Zufluchtsstaaten: Die USA nahmen nur Exilanten auf, die ein Affidavid vorweisen konnten (= eine eidesstattliche Erklärung desjenigen über die eigenen Vermögensverhältnisse, der einen Exilanten finanziell absichern wollte), eine finanzielle oder Job-Unterstützung durch die US-Behörden gab es nicht. Argentinien, ebenso die USA erkannten von Freiberuflern keine deutschen Examina an, Dänemark ließ finanziell mittellose Flüchtlinge polizeilich ausweisen, Kanada nahm keine Intellektuellen auf, die Schweizer Kantons- und Fremdenpolizei erteilte jeweils nur für drei Monate Aufenthaltsgenehmigungen und grundsätzlich keine Arbeitserlaubnisse, selbst die Einwanderung nach Palästina (Israel) wurde durch die britische Mandatsverwaltung streng limitiert, um die palästinisch-arabische Bevölkerung nicht zu beunruhigen. Auch dort mußten die Emigranten ein „Vorzeige-Geld“ besitzen.
 
Kristine von Soden konnte sich für ihr Buch auf die gefundenen Tagebuchnotizen jüdischer Emigrantinnen stützen, denn diese Frauen hatten oftmals die Beschwernisse, die Schikanen des NS-Staates, die Bedrohungen und die Einschränkungen vor dem Entschluß ins Exil zu gehen und in den Wochen und Monaten des Wartens auf die Ausreise akribisch zu Papier gebracht. Gelungene Fluchten und gescheiterte Versuche, in den ausgewählten Staaten anzulanden, werden von der Autorin genauso benannt, wie die Schwierigkeiten im Exil beruflich Fuß zu fassen. Die leidvollen Erfahrungen aus dem nationalsozialistischen Deutschland heraus zu kommen, schildert die Ärztin Hertha Nathorff. Wochenlanges Warten auf diverse Visa, der Verlust des schon zum Verschiffen gegebenen Mobilars in Antwerpen, weil die Reichsbank die Nathorffschen Devisen für die Bezahlung des Übersee-Transports unterschlagen hatte, das finanzielle Ausgeplündertsein und die zum guten Schluß doch noch erfolgte Reise, gemeinsam mit ihrem Mann, mit der „Bremen“ nach Amerika. Sie hatten Freiheit und Leben erkämpft für den Preis, daß beide in den USA nicht mehr als Ärzte arbeiten konnten. Ein schlimmes Schicksal hat auch die hoch gelobte Dichterin Else Lasker-Schüler, letzte Heinrich-Kleist-Preisträgerin vor der Machtübernahme der Nazis, im Schweizer Exil seit 1933 erfahren. Wegen des strikten Arbeitsverbotes in Mittellosigkeit verfallen, konnte sie nur dank finanzieller Unterstützung durch die Zürcher Jüdische Gemeinde und durch Zuwendungen alter Freunde überleben. Diese finanzierten ihr auch drei Reisen nach Palästina/Israel – nach Kriegsbeginn kam sie nicht mehr aus Israel heraus, auch hatte ihr die Schweiz ein Rückkehr-Visum verweigert. Sie starb vereinsamt im Januar 1945 in Jerusalem.
 
Viele der Fluchtschiffe durften in den Zielhäfen nicht anlanden und irrten von Hafen zu Hafen, so geschehen mit der „St.Louis“, wo mehrere hundert jüdische Exilanten trotz gültiger Einreisevisa für Kuba nicht in Havanna an Land durften. Andere Schiffe, oftmals schrottreife „Seelenverkäufer“ verschwanden mit ihrer menschlichen Fracht für immer auf den Weltmeeren. Tragisch endete für Monika Mann, Thomas und Katja Manns „ungeliebter“ Tochter, die Reise von Liverpool nach Kanada im September 1940 mit dem britischen Schiff „City of Benares“. Das Schiff wurde von einem deutschen U-Boot torpediert und sank. Monikas ungarisch-jüdischer Mann Jenö Lányis ertrank, mit ihm starben 250 Passagiere, darunter 83 Kinder, die ins sichere Kanada gebracht werden sollten. Sie selbst wurde von einem britischen Kriegsschiff gerettet und kam nach Schottland. Einen Monat später konnte sie dann mit der „Cameronia“ nach New York reisen. All diesen jüdischen Frauen und Männern setzte Anna Seghers, jüdisch-deutsche Autorin und Heinrich-Kleist-Preisträgerin von 1928, mit dem Roman „Transit“ ein Denkmal. In dieses freie literarische Werk sind auch persönlich leidvolle Erfahrungen des Transits eingeflossen. Sie verweist auf die von vielen Exilanten falsch eingeschätzte Situation in der Hafenstadt Marseille – die Stadt war keinesfalls ein letzter sicherer Zufluchtsort, es war eher eine üble „Mausefalle“. Es wimmelte von französischen Spitzeln des Vichy-Regimes und von Zuträgern der Fremdenpolizei, auch der Deutschenhaß war offensichtlich. Aber es fanden sich auch Franzosen, die mit den deutschen Juden und Antifaschisten solidarisch waren. Nach Wochen des Wartens auf Pässe, Visa und andere Papiere konnte Anna Seghers 1941 mit ihrer Familie auf dem alten Fracht-Dampfer „Capitaine Paul Lemerle“ in Richtung Martinique aufbrechen. Von dort reiste sie weiter nach Mexiko. Während der Überfahrt konzipierte sie ihren berühmten Roman „Transit“, „darin ist das Schiff 'die schwimmende Nussschale', Symbol für die brüchige 'Zwischenexistenz´ der Emigranten, auch im späteren Exil.“ Mit diesem Roman hat Anna Seghers auch dem mexikanischen Konsulat in Marseille ein literarisches Denkmal gesetzt. Generalkonsul Gilberto Bosques hatte über 40.000 Flüchtlingen Visa für Mexiko ausstellen lassen.
 
Kristine von Sodens Buch „Und draußen weht ein fremder Wind...“ ist ein wichtiges Buch, das vom Durchhaltevermögen, aber auch von der Leidensfähigkeit jüdisch-deutscher Frauen spricht. Die vorgestellten Persönlichkeiten deutschen Geistes- und Kulturlebens stammten überwiegend aus gutbürgerlichen Verhältnissen, konnten die finanziellen Mittel für die Reise ins Exil aufbringen – die, die das nicht konnten und keine Hilfe von jüdischen Organisationen erhielten, erwartete ab 1942 die Deportation in den sicheren Tod.
 
Kristine von Soden, „Und draußen weht ein fremder Wind...“ - Über die Meere ins Exil
© 2016 AvivA Verlag, 240 Seiten, gebunden - ISBN: 978-3-932338-85-4
19,90 €
 
Weitere Informationen: www.aviva-verlag.de