Kolophonium im Blut

Gert Hulverscheidt, Erster Konzertmeister des Sinfonieorchesters Wuppertal, wurde verabschiedet.

von Frank Becker

Foto: Sinfonieorchester Wuppertal

Kolophonium im Blut
 
Gert Hulverscheidt, Erster Konzertmeister des Sinfonieorchesters Wuppertal,
wurde verabschiedet.
 
Von Wermelskirchen nach Wuppertal ist es nur ein kurzes Stück, wenn man den direkten Weg nimmt. Über Köln, Düsseldorf, Remscheid, Paris, Lübeck, Bamberg, Duisburg und Bayreuth allerdings klingt es nach einem bewegten und erfolgreichen Musikerleben. So ist es auch, das Leben Gert Hulverscheidts, des scheidenden Ersten Konzertmeisters des Sinfonieorchesters Wuppertal.
Daß der Großvater die Feuerwehrkapelle in Wermelskirchen anführte und sieben seiner Söhne mitmarschierten, darunter auch Gert Hulverscheidts Vater, darf als Grundstein angesehen werden. Daß der junge Gert Hulverscheidt mit acht Jahren den dringenden Wunsch äußerte ein Instrument zu erlernen, liegt auf der Hand. Er entschied sich, weitab von der großväterlichen Tradition, für die Violine. Generationen von Musikfreunden haben ihm später diese Entscheidung gedankt, Seine Ausbildung begann der Knabe bei Ilse Pfeiffer-Foerster, die - heute 85jährig - beglückt an Hulverscheidts Abschiedsgala im Opernhaus teilnehmen konnte.
Die Kriegswirren unterbrachen den Unterricht des begabten Jungen. Das Schicksal des Vaters, der in russischer Kriegsgefangenschaft starb und den eigenen Traum von einer Musikerkarriere nicht verwirklichen konnte, wurde zur Triebfeder des Sohnes, das väterliche Vermächtnis einzulösen. Mit vierzehn Jahren nahm er die Studien wieder auf, gelangte über Franz-Joseph Maier zu Prof. Kurt Schäffer (damals Collegium Aureum Köln) und mit diesem nach Düsseldorf ans Robert-Schumann-Konservatorium. Schon während des Studiums wurde Hulverscheidt Mitglied des Kölner Kammerorchesters Erich Kraak und des Düsseldorfer Bachvereins unter Prof. Josef Neyses.
1953 bekam er sein erstes festes Engagement beim Städtischen Orchester Remscheid unter GMD Otmar Suitner und gleich bei den ersten Geigern. Er blieb fast zwei Jahre dort und gewann in dieser Zeit den „Wettbewerb für junge deutsche Geiger“ in Düsseldorf und in Weikersheim den Wettbewerb ,Jeunesses Musicales“, was zum nächsten wichtigen Schritt führte, einem Stipendium der französischen Regierung, das ihn nach Paris brachte: 1954/55 konnte er bei Jeanne Gautier studieren, einer der ganz großen Lehrerinnen auf dem Kontinent. Durch Mme. Gautier erfuhr der junge deutsche Musiker die gleiche großzügige Unterstützung und Förderung, die er später auch von Europas wichtigstem Lehrer Max Rostal und in Bayreuth durch Daniel Barenboim bekam. Das vermittelte ihm eine der ganz wichtigen Erfahrungen seines Lebens: Diese drei wunderbaren Musikerpersönlichkeiten haben eines gemeinsam, sie sind Juden die über alle möglichen Ideologien hinweg den jungen Deutschen wie auch andere Musiker förderten und die historischen Barrieren einrissen.

Seine Karriere nahm Formen an. Von 1955 bis 1957 war er 2. Konzertmeister in Lübeck unter GMD Gotthold Ephraim Lessing und dem Ersten Konzertmeister Karl Kundrat, der ihm als Schüler von Arnold Rosé in unmittelbare Berührung mit Gustav Mahlers und Richard Strauss' Arbeit brachte. Als die Bamberger Symphoniker 1957 einen Ersten Geiger suchten, griff Hulverscheidt zu, er bewarb sich und wurde genommen. Für drei Jahre spielte er unter den GMD Joseph Keilberth und Rudolf Kempe in einem Klangkörper, der damals neben dem Sinfonieorchester Berlin das Orchester Deutschlands war. Der nächste Schritt führte Gert Hulverscheidt Ende 1960 näher an die Heimat. Er bekleidete in Duisburg unter GMD Georg-Luwig Jochum die Stelle eines stellvertretenden Ersten Konzertmeisters. Während er gleichzeitig von 1950 his 1964 bei Prof. Max Rostal ein Privatstudium nahm - dem er übrigens eine Stunde lang ohne Pause vorspielen mußte (zwölf Stücke waren es), um zum Unterricht angenommen zu werden - begann sein solistisches Auftreten mit dem Orchester in Duisburg, dem er bis 1969 angehörte. Auf Gastsolisten konnte häufig verzichtet werden, Gert Hulverscheidt war für Solopartien gut und wurde eingesetzt. Strawinsky, Mendelssohn, Beethoven, Brahms, Bartok und Bruch gehörten zu seinem Violin-Repertoire.
Je bekannter der Musiker, desto umfangreicher die Angebote und Aufgaben: Gastverpflichtungen reihten sich aneinander, wie z.B. bei den Rundfunksinfonieorchestern von NDR, WDR und HR, dem Gürzenich-Orchester, der Philharmonia Hungarica in Marl und den Sinfonieorchestern in Düsseldorf und Essen, 1968 eine Asien Tournee mit dem Börner-Trio. Das alles natürlich neben den Aufgaben im festen Haus. Es sollte nicht weniger werden.

1969 holte Wuppertals legendärer GMD Hanns-Martin Schneidt Hulverscheidt hierher, besetzte mit ihm die Stelle des Ersten Konzertmeisters. Gert Hulverscheidt blieb dem Sinfonieorchester Wuppertal treu und begleitete es durch gute und schlechte Zeiten als Ausnahmemusiker bis zu seiner Pensionierung, später unter GMD Peter Gülke und zuletzt dem kommissarischen GMD Stefan Klieme. In dieser ganzen Zeit gehörte Gert Hulverscheidts musikalisches Herz zwei Geliebten: Zunächst natürlich dem Sinfonieorchester Wuppertal, dann aber auch dem Festspielorchester Bayreuth, zu dessen festem Stamm er von 1970 bis 1997 gehörte. Bayreuth wurde zur zweiten Heimat des Mannes, der wie er sagt, erst spät zu Wagner fand, seiner Musik aber jetzt in großer Liebe Verbunden ist. Unter Böhm, Boulez, Barenboim, Levine, Schneider und Stein spielte er (Schallplattenaufnahmen sind vorhanden) nahezu das ganze Wagner-Repertoire.
Doch auch Wuppertal führte zu neuen konzertanten Ufern. Schneidt öffnete Hulverscheidts Herz für die Barock-Musik, ließ ihn alle sechs Brandenburgische Konzerte spielen und Händels „Alcina“. Es folgte eine große Reihe von Mozart-Opern. Gülke führte verstärkt die sogenannte „Neue Wiener Schule“ auf, bevorzugte Schönberg und Zemlinski und Gert Hulverscheidt empfand die Auseinandersetzung mit neuerer und später Neuer Musik als „Erweiterung im Kopf“ und stetige Anforderung. Auch seiner Lehrtätigkeit an der Wuppertaler Musikhochschule, die er neben den vielen Orchesterverpflichtungen seit 1973 ausübte, kamen diese Erfahrungen zugute.
Mit 65 wird man offiziell pensioniert, aber wer will einem Vollblutmusiker per Datum die Hände binden? Gert Hulverscheidt wird weiter aktiv sein: als Musiker in Kammerkonzerten, als Gast bei verschiedenen Orchestern und als Lehrer, der seine Schüler vor der Praxis mit der musikphilosophischen Arbeit Ernst Blochs im „Prinzip Hoffnung“ konfrontiert. Er ist und wird sein: ein vielbeschäftigter und in Demut bescheidener Mann, dem eine Erkenntnis seinen Weg begehbar gemacht hat – „Gut Ding hat Weile“.
 
Frank Becker