Mangelware Anstand
Prädikat: Wertvoll
Als im Jahr 2003 der Journalist Asfa-Wossen Asserate mit seinem Buch „Manieren“ auf dem deutschsprachigen Markt einen geradezu sensationellen Erfolg verbuchen konnte, wurde offenbar, daß die provozierende Frage des Klappentextes „Manieren, schön und gut, aber welche? Und warum brauchen wir sie überhaupt?“ sichtlich viele umtrieb. Ob außer etlichen Corps-Füchsen auch das Gros der Bevölkerung aus Asfa-Wossens Buch tatsächlichen Gewinn ziehen konnte, ist unerforscht. Manieren scheinen aus der Mode gekommen zu sein.
Der Kolumnist Axel Hacke widmet sich in seinem aktuellen Buch, das mit seinem sperrigen Titel „Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen“ schon alles über den Inhalt sagt, der weit tiefer ans Wesen unserer Gesellschaft gehenden Frage, wie es denn um Anstand und Anständigkeit hierzulande bestellt sei. Denn deren beider Verlust ist augenscheinlich zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu beklagen, einher gehend mit einer allgemein um sich greifenden seelischen Verrohung. Als Beispiel sei ein Verfahren genannt, das gestern vor dem Amtsgericht in Essen verhandelt wurde: Vier Bankkunden (drei Männer, eine Frau) haben einen zusammengebrochenen, verletzten alten Mann im Vorraum der Bank ohne Hilfe liegen lassen, sind sogar über ihn hinweggestiegen, um an den Geldautomaten zu gelangen. Erst ein fünfter Kunde rief Hilfe – zu spät. Der alte Mann starb im Krankenhaus an seinen Verletzungen. Oder: Auf der Straße halten Autofahrer an, um schlimme Unfälle mit ihrem Smartphone zu filmen, nicht um Hilfe zu leisten. Im Bus lassen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene ältere Menschen stehen, ohne ihnen ihren Platz anzubieten. In den „sozialen“ Netzwerken werden Menschen verleumdet, beleidigt und mit Kränkungen bis zum Suizid getrieben. Die ekelhafte Verwilderung der Manieren mit dem Verlust jeglichen Anstandes in der Folge ließe sich in ein einer langen Liste anderer täglich wiederkehrender Beispiele fortführen.
Eins noch: Der amerikanische Präsident Donald Trump, derzeit wohl der rüdeste, unhöflichste und unmanierlichste Politiker der westlichen Welt, hat vor den Augen der Öffentlichkeit in etlichen erschreckenden Fällen den Verlust jeden Anstandes gezeigt. Ob er vom Rednerpult aus die Gebrechen eines behinderten Mitbürgers aufs Ekelhafteste verspottet, ob er für ein Pressefoto den montenegrinischen Premierminister rüde beiseite schubst, um zufrieden glänzend in der ersten Reihe zu stehen oder ob er offen amerikanischen Neonazis und Klan-Anhängern Sympathien entgegenbringt – Trump ist sozusagen die Unanständigkeit in Person.
„Wir leben in aufgewühlten und aufwühlenden Zeiten, die Grundlagen unseres bisherigen Zusammenlebens sind bedroht: Zeit, sich wieder einmal ein paar wichtige Fragen zu stellen. Was bedeutet es eigentlich für jeden Einzelnen, wenn Lüge, Rücksichtslosigkeit und Niedertracht an die Macht drängen oder sie schon errungen haben? Wenn so erfolgreich in der Öffentlichkeit gegen alle bekannten Regeln des Anstands verstoßen wird? Was heißt unter diesen Bedingungen genau: ein anständiges Leben zu führen?“ fragt der Verlag mit Axel Hacke. Der wiederum nennt in seinem Buch mit einem Exkurs über die Dummheit Beispiele für die möglichen Ursachen solcher Anstandslosigkeit, zitiert Sascha Lobo, Marc Aurel und Albert Camus („Nein, ein Mensch, der hält sich im Zaum. Genau das ist ein Mensch, oder sonst...") zum Thema und ruft immer wieder eindringlich das Beispiel von Erich Kästners „Fabian“ als moralische Instanz auf.
„Wie wäre es mit dem etwas in Vergessenheit geratenen Gedanken, daß man einer Gesellschaft nur angehören kann, wenn man ein Opfer für sie zu bringen bereit ist?“, fragt Axel Hacke und setzt fort: „ Es ist mit komplett unbegreiflich, wie es möglich war, daß die Wehrpflicht sang- und klanglos einfach ausgesetzt wurde, ohne daß man machtvoll ihre Ersetzung durch einen zivilen Dienst für jede und jeden verlangte, damit nicht das Gefühl verloren gehe, daß wir in diesem Land und in dieser Welt gemeinsam existieren. Komplett unverständlich, wie gesagt. Aber das nur nebenbei.“
Nur vier Seiten weiter – bitte erlauben Sie mir ein letztes Zitat – mahnt Axel Hacke mit Blick auf die Geschäftsmodelle von Großbanken und Auto-Konzernen: „Nun aber Folgendes: Wenn in einer Gesellschaft nicht-anständiges Verhalten, das es immer und überall gibt, ohne daß es die Regel ist, ständig belohnt wird, dann werden immer weniger Leute sich bemüßigt fühlen, noch anständig zu sein - und dann gewinnt irgendwann die Anstandslosigkeit die Oberhand. Man findet ja eine Rechtfertigung für eigenes im Grunde nicht zu rechtfertigendes Verhalten im Verhalten anderer. Dieses `Wenn der, dann ich aber doch auch` - wo fängt das an?“
Axel Hackes „Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen“ ist neben Roger Willemsens „Wer wir waren“ eine der wertvollsten Neuerscheinungen dieses Jahres, sprachlich brillant, trotz philosophischer Substanz zugänglich für jedermann und Anstoß für mancherlei weiterführende Gedanken. Unser Buch der Woche – und mit dem Musenkuß ausgezeichnet.
Axel Hacke – „Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen“
© 2017 Verlag Antje Kunstmann, 189 Seiten, gebunden, Schutzumschlag
ISBN 978-3-95614-200-0 18,- €
Weitere Informationen: www.kunstmann.de
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