Der Blick nach oben. Rom – Porträt einer Stadt

Faszinierende Fotografien von Stefano Castellani in der Münchner Glyptothek

von Rainer K. Wick

Colonna Traiana – SS. Nome di Maria
Foto © Stefano Castellani
Lo sguardo verso l’alto /
Der Blick nach oben.
Rom – Porträt einer Stadt
 
Faszinierende Fotografien von Stefano Castellani in der Münchner Glyptothek
 
 
Der Blick nach oben ist eine probate Strategie, wenn es um fotografische Aufnahmen großer Bauwerke bei geringem Abstand zur Kamera geht. Insofern handelt es sich um eine typische Sichtweise, wie man sie vor allem aus der Skyscraper-Fotografie der großen Metropolen kennt. Während derartige Perspektiven mit dramatisch zum Fluchtpunkt konvergierenden Linien aus New York, Shanghai oder Dubai längst zur Gewohnheit geworden sind, überrascht nun der italienische Fotograf Stefano Castellani bis 14.01.2018 in den Sälen der Münchner Glyptothek mit faszinierenden Bildern seiner Heimatstadt Rom, die das Resultat der konsequenten Ausrichtung der Kamera gen Himmel sind.
Obwohl der 1966 in Rom geborene Castellani, der 1994 sein Studium der lateinischen Epigraphik, also Inschriftenkunde, an der römischen Universität La Sapienzia abschloß, seit Jahrzehnten professionell fotografiert und als Fotograf für diverse römische Denkmalbehörden arbeitet, ist die Münchner Schau seine erste Einzelausstellung. Hier zeigt er nicht seine Auftragsarbeiten – meist archäologische Objekt- und Dokumentarfotografien von exquisiter handwerklicher Qualität (siehe https://www.stefanocastellani.com/) –, sondern unter dem Titel „Lo sguardo verso l’alto“ freie Fotoarbeiten, die treffend mit Klaus Honnefs in den 1970er Jahren geprägten Schlagwort der „Autorenfotografie“ (in Anlehnung an den Begriff des Autorenfilms) gekennzeichnet werden können.
 
Castellanis „Blick in die Höhe“ ist das Ergebnis einer mehr als zehn Jahre andauernden Suche: „Jeden Tag bringt mich meine Arbeit als Fotograf in engen Kontakt mit dem künstlerischen und architektonischen Erbe Roms. Dort kann ich beobachten, wie sich Elemente aller Stile und Epochen miteinander verbinden oder nebeneinander existieren. Auf der anderen Seite sehe ich den ungeregelten Verkehr, die überall geparkten Fahrzeuge, das Chaos und nicht selten Anzeichen der Verwahrlosung. Auf fotografischer Ebene gelingt es mir nicht, diese beiden so widersprüchlichen Aspekte in einem Bild zu vereinen. Vor allem aus diesem Grunde entstand mein Verlangen danach, die Augen zum Himmel zu wenden. Der ‚Blick in die Höhe‘ ist für mich mittlerweile zur Gewohnheit geworden, zu meiner alternativen Art des Sehens“, die aus der Weigerung resultiert, „das zu akzeptieren, was unterhalb einer gewissen Höhe zu sehen ist“. Eskapismus? Für Castellani bedeutet diese Sichtweise „einen Akt der Liebe für [seine] Stadt und gleichzeitig einen Protest, der durch Abstraktion, Verdrängung und Beschränkung auf signifikante Details zum Ausdruck kommt.“ (Katalog, S. 41 f.)
 
Der Aspekt des Protestes ist den beeindruckenden Fotografien Castellanis freilich kaum direkt ablesbar. Dominierend ist vielmehr eine auf konzeptioneller Stringenz beruhende, kühne Bildästhetik, die sich dem strikten Aufwärts der Kamera verdankt und zu einer ganz neuen Lesart der Ewigen Stadt führt. Dabei gelingt es dem Fotografen, die sich überlagernden und durchdringenden Zeitschichten von der Antike bis in die Moderne bildsprachlich prägnant zur Geltung so bringen, so etwa in der Aufnahme „Columna Traiana“ mit der senkrecht nach oben schießenden Ehrensäule und der knapp angeschnittenen und gleichsam ins Bild stürzenden Fassade der Barockkirche SS. Nome di Maria. Anders das Foto „Vertex (Piazza Sant‘Ignazio)“, das nicht das Neben- und Miteinander mehrerer Epochen und Stile zeigt, sondern die stilistische Einheit des Platzes mit seinen dynamisch kurvierten Rokokofassaden. Hier ist eine eindeutige Zuordnung von links und rechts, oben und unten kaum mehr möglich, alle Richtungen scheinen gleichberechtigt. Schon in den 1920er Jahren hat der ungarische Universalkünstler und Bauhaus-Lehrer László Moholy-Nagy, Mitbegründer der „Neuen Fotografie“ jener Zeit, zu einem derartigen fotografischen Sehen angemerkt: „Was früher als Verzeichnung galt, ist heute verblüffendes Ergebnis! Aufforderung zur Umwertung des Sehens. [Das] Bild ist drehbar. Es gibt immer neue Sichten.“


Oben 'La Fuga (EUR – Museo della Civiltà Romana)', unten 'Tensioni (Stazione Termini) -  Foto © Stefano Castellani

Daß Castellani seinen Kamerablick in die Höhe je nach Sujet ganz unterschiedlich steuert, macht die exemplarische Gegenüberstellung zweier Fotos deutlich, nämlich „La Fuga (EUR – Museo della Civiltà Romana)“ und „Tensioni (Stazione Termini)“. Im ersten Fall handelt es sich um die Fotografie eines Bauwerk auf dem Gelände der für 1942 an der Peripherie Roms geplanten „Esposizione Universale 1942“ (E42; heute EUR), das im Gewand eines monumentalen Neoklassizismus, dem bevorzugten Stil des faschistischen Mussolini-Regimes, daherkommt. Das Ziel dieser Architektursprache, die sich neben des Bogens mit Vorliebe der Säule als Motiv bediente und auf Achsensymmetrie hin konzipiert war, bestand in der Demonstration von Macht und in der Beeindruckung der Massen. Castellani nimmt dieses Vokabular der Herrschaftsarchitektur auf, indem er seine Aufnahme streng symmetrisch komponiert und die glatten Säulen zentralperspektivisch auf den Fluchtpunkt (punto di fuga) genau in der Mitte des oberen Bildrandes zulaufen lässt. Ganz anders das Foto, das ausschnitthaft das Verwaltungsgebäude und die Eingangshalle des römischen Hauptbahnhofs, der Stazione Termini, zeigt. Vor dem die Horizontale betonenden, breit gelagerten mehrstöckigen Verwaltungstrakt mit seinen charakteristischen langgezogenen Fensterbändern befindet sich, asymmetrisch platziert, in Betonskelettbauweise eine großzügige, lichtdurchflutete Vorhalle mit einem dynamisch geschwungenen, in Richtung Bahnhofsvorplatz stark auskragenden Dach. Indem Castellani die Kamera schräg gekippt hat, gelingt es ihm, etwas von den Spannungen (tensioni) dieses Bauwerks und, allgemeiner, von Dynamik des Aufbruchs in die Architektur der italienischen Nachkriegsmoderne zu übermitteln, die sich dezidiert vom Erbe des Faschismus abzusetzen suchte.

Um noch einmal zum Thema der für Rom typischen Synchronizität unterschiedlicher Stilerscheinungen und Zeitschichten zurückzukommen: Überaus signifikant ist in dieser Hinsicht das Foto „Complessità e Semplicitià“. In leichter Schrägstellung der Kamera konfrontiert Castellani die Backsteinfassade der auf dem Kapitolshügel gelegenen mittelalterlichen Kirche Santa Maria in Aracoeli mit dem unmittelbar angrenzenden, maßstabslosen Nationaldenkmal zu Ehren des italienischen Königs Viktor Emanuel II., erbaut in den Jahren 1885 bis 1911 – eine pompöse Triumpharchitektur, die an die Siege über Österreich bei Magenta und Solferino 1859 und an die Gründung des geeinten Italiens 1861 erinnert. Hier ist alles ins Bombastische gesteigert, hohles Pathos stößt sich hart mit der zurückhaltenden Einfachheit der romanischen Fassade.
Leider kommt es in der Ausstellung zwischen den großartigen griechischen und römischen Skulpturen einerseits – von den Ägineten bis zu Augustus und darüber hinaus – und den eindrucksvollen Fotografien Castellanis andererseits zu keinem echten Dialog. Auch wenn Florian Knauß, seit 2011 Direktor der Staatlichen Antikensammlungen und der Glyptothek in München, davon spricht, daß sich „die Architekturaufnahmen von Stefano Castellani ganz harmonisch in die Ausstellungssäle“ (Katalog, S. 2) fügen, bleibt es in den meisten Fällen doch bei einer Parallelinszenierung ohne zwingende inhaltliche und/oder formale Korrespondenzen zwischen der Architektur des Museums, den dort präsentierten Plastiken und den Fotografien Castellanis. Daß der Besuch der Ausstellung trotz dieser kritischen Anmerkungen ein ästhetisches Erlebnis und eine bereichernde Erfahrung sein kann, steht gleichwohl außer Frage.


Passeggiata Surreale (Piazza San Pantaleo), davor Giebelskulpturen vom Tempel in Ägina (Ägineten) - Foto © Stefano Castellani

Zur Ausstellung ist ein schlanker Katalog erschienen:
Florian Knauß (Hrsg.), Rom – Porträt einer Stadt. Lo sguardo verso l'alto. Photographien von Stefano Castellani, dt./ital., 64 S. 42 Abb., € 19,90
 
Alle Fotos (auch die Ausstellungsansicht mit den Ägineten) © Stefano Castellani