Türkische Geiselnahmen und deutsche Ausreden

Ein Kommentar

von Ulli Tückmantel

Foto © Anna Schwartz
Türkische Geiselnahmen
und deutsche Ausreden
 
Von Ulli Tückmantel
 
Daß der Noch-Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth (SPD) und der potenzielle künftige Außenminister Cem Özdemir (Grüne) im Fall des Menschenrechtsaktivisten Peter Steudtner von der Türkei ein „faires, zügiges und rechtsstaatlichen Regeln folgendes Verfahren“ fordern, ist ein schwer erträgliches Täuschungsmanöver.
Es gibt, wie Roth und Özdemir sehr wohl wissen, keine fairen Verfahren in der Erdogan-Türkei. Peter Steudtner ist wie so viele Eingesperrte das Kidnapping-Opfer eines islamistisch-autokratischen Putschisten-Regimes. Roth und Özdemir sollten endlich aufhören so zu tun, als würden für die in ihrem Kern „defekte“ türkische Demokratie noch die Maßstäbe zivilisierter Staaten gelten.
Wenn Cem Özdemir ganz auf der Tonspur seiner SPD-Vorgänger Gabriel und Steinmeier „fürchtet“, ein Abbruch der EU-Beitrittsgespräche würde eine innertürkische Opposition weiter schwächen und den in der Türkei Inhaftierten nicht helfen, so ist das bloß eine Ausrede, um deutsche Unterlassungen im Umgang mit einem (Noch-) Nato-Land zu rechtfertigen.
Während die Umstände in der Türkei immer unerträglicher werden, gesellt sich zur politischen Verharmlosung der verstörende Umstand, daß trotz der bekannten Zustände die Buchungen deutscher Touristen offenbar wieder zunehmen. Bei 40 Prozent Preisabschlag überlagert die Schnäppchen-Freude offenbar jede normale Gewissensregung. Und als ob man im ganz normalen Gespräch wäre, verschicken türkische Generalkonsulate derzeit Einladungen: Die Türkei begeht am 29. Oktober ihren wichtigsten nationalen Feiertag, den „Tag der Republik“. Er erinnert an die Festlegung der Staatsform durch Mustafa Kemal Pascha (Atatürk) im Jahr 1923 und seine Wahl zu ihrem Präsidenten.
Wäre die Türkei noch ein Rechtsstaat, so würde sie Erdogan an diesem Tag den Prozeß machen, weil der Geiselnehmer in der Verkleidung eines Präsidenten eine fortwährende Beleidigung des Vaters der Türken ist. Seit der deutsche Diplomat Walter Hallstein 1963 in einer Rede in Ankara die Fantasie einer Türkei als „vollberechtigtes Mitglied“ damals der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in Umlauf gebracht hat, redet sich Deutschland Jahrzehnt um Jahrzehnt eine Demokratie-Entwicklung in der Türkei ein, die reines Wunschdenken ist. Das muß enden.


Der Kommentar erschien am 26. Oktober 2017 in der Westdeutschen Zeitung.
Übernahme des Textes mit freundlicher Erlaubnis des Autors.