Notizen

Aus dem Tagebuch

von Erwin Grosche

Foto © Harald Morsch
Notizen

 
Da muß ich jetzt ran geh`n: Manchmal treffen sie einen auf der Hochzeitsfeier, der steht mit ihnen am Buffet, ist überfreundlich. Fragt „Wie geht’s, wie stehts“, drückt einem die Hand als wäre sie aus fimo Knete, aber dann klingelt`s, wie aus heiterem Himmel, dröhnt aus seinem Smartphone: der Walkürenritt von Richard Wagner durch den Saal, und er reißt die Augen auf, zieht sein Handy aus der Tasche, flüstert eindringlich: „Oh, Entschuldigung, da muß ich jetzt ran geh`n“. (Walkürenmusik) Verstehen sie, da muß er jetzt ran geh`n und meint damit, daß er selbstverständlich woanders gebraucht wird, wo das Überleben der Menschheit, das Schicksal der Welt, die Existenz Gottes von seinem Rat abhängt. „Hier spricht Professor, Doktor Adler, ich habe ihren Anruf schon erwartet“ wird er sagen, umschalten in den Heldenmodus. Das wußten wir gar nicht, daß er Professor Doktor Adler ist, wir haben immer gedacht, er heißt Teddy: „Teddy, die Pflaume“. Und nun ist er Professor Doktor und spricht mit anderen, die wir nur aus Zeitung, dem Fernsehen, aus den Hinterzimmern der Politik, oder der ersten Reihe der Weltbühne kennen. So wendet er sich von uns ab, von seinen menschlichen Freunden, den Traumtänzern und der normalen Weltbevölkerung. (Walkürenmusik) „Das ist jetzt wichtig“, wird er noch flüstern. Und wir kleinen Geister, wir aus dem Zwergenvolk wissen: Da geht es um Entscheidungen, die nur er, Professor Doktor Adler, treffen kann. Als Teddy die Pflaume habe ich ihn noch gemocht.
„O Entschuldigung, da muß ich jetzt ran geh`n.“ (Walkürenmusik) Das möchte ich auch mal sagen, vielleicht auf einer Beerdigung, wo ich gerade noch Trost gespendet habe, oder bei einem Unfall, wo ich gerade eine Mund zu Mundbeatmung vornehmen muß. „O Entschuldigung, da muß ich jetzt ran geh`n.“ (Walkürenmusik) Oder während eines Liebesaktes, wo wir gerade auf Wolke 7 schweben oder während eines Weltraumfluges zum Mars beim ersten Kontakt mit einer Außerirdischen. „O Entschuldigung, da muß ich jetzt ran geh`n!“ (Walkürenmusik)
...
Und dann ist es doch nur mein Steuerberater am Apparat, dem Unterlagen zu meinen Gaststättenbesuchen fehlen, oder Mutter, die, wie immer, sich selbst ausgesperrt hat, damit sie abends wieder Besuch bekommt, oder Babsi, die in einer Schlange auf der Post steht und Langeweile hat und sich da wieder an mich erinnert oder mein Freund Robert, der unseren Selbstbefreiungskursus absagen will, da er nicht mehr vor die Tür will und den ganzen Tag am heulen ist. „O Entschuldigung, da muß ich jetzt ran geh`n!“ (Walkürenmusik)
 
 
© Erwin Grosche

 Redaktion: Frank Becker