Mord im Orient Express
(Murder on the Orient Express – USA 2017) Regie: Kenneth Branagh
Mit: Kenneth Branagh, Michelle Pfeiffer, Penelope Cruz, Johnny Depp, Willem Dafoe, Judi Dench, Derek Jacobi u.a. Wahrscheinlich wurde kaum ein Agatha-Christie-Roman so oft verfilmt wie „Mord im Orient Express“ – bisher dreimal, davon 1974 so exemplarisch und glanzbesetzt unter Regisseur Sidney Lumet, daß man jedem neuen Versuch nur skeptisch entgegen sehen mußte. Nun, alle Befürchtungen sind unbegründet – der neue „Orient Express“ von 2017 ist ein Gustostück für sich, und das verdankt man dem Hercule Poirot des Kenneth Branagh, der auch Regie führte. Und dabei hat er seine Figur sehr, sehr gut bedacht und ganz gezielt in den Mittelpunkt gestellt. Aber wer ein so großartiger, witzig-ironischer Schauspieler (und ein so geschickter Regisseur) ist wie er, der darf das.
Alle bisherigen Verfilmungen sind recht frei mit dem Original umgegangen, haben einzelne Figuren verändert und umgetauft, aber das grundlegende Konzept bleibt dasselbe: Edward Ratchett, ein wahrer Schurke, wird ermordet, und 12 Passagiere des Orient Express, der irgendwann in den dreißiger Jahren in einer Schneekatastrophe im Balkan stecken geblieben ist, sind tatverdächtig. Ein Fall für Poirot…
Bis es dazu kommt, wird die Handlung noch ein wenig ausgebaut: Sie beginnt an der Klagemauer in Jerusalem, läßt einen kleinen Jungen mit Eiern zweimal durch die Stadt in ein Luxushotel laufen – warum? Weil Monsieur Poirot seine Frühstückseier auf ganz bestimmte Weise wünscht und sie zurückschickt, wenn sie nicht passen. Der ganze Mann wird in seinem exzentrischen Charme und seiner reizvollen Zickigkeit umrissen, „schlanker“ als Peter Ustinov (der übrigens nicht im „Orient Express“ spielte, aber in seiner Epoche „der“ Poirot schlechthin war) und so anders, daß Branagh keinen Vergleich scheuen muß, weil es keinen gibt: Er ist so ein Unikat, wie es sein Vorgänger war.
Wenn er sich auf den Orient Express begibt, blättert der Film nach und nach seine Mitreisenden auf, die man alle in Konfrontation mit ihm erlebt. Vielleicht war die Besetzung 1974 um einiges stärker, etwa wenn das junge Grafenpaar Andrenyi damals mit Jacqueline Bisset und Michael York besetzt war, während es diesmal mit Lucy Boynton und Sergei Polunin so gut wie unter den Tisch fällt. Aber es gibt auch hier genügend starke Besetzungen. Schön, daß sich für die unverändert attraktive Michelle Pfeiffer doch noch Rollen finden, auch wenn sie (eine unverzeihliche Sünde in Hollywood) auf die 60 zugeht: Sie kann immer noch sexy, süffisant und leinwandfüllend sein (so wie einst Lauren Bacall in dieser Rolle). Und wenn Johnny Depp auch nicht kraftvolle Ausstrahlung eines Richard Widmark hat – daß er ein Bösewicht ist, glaubt man dieser halbseidenen Erscheinung ohne weiteres – und verurteilt ihn glatt zum Tode. Passiert auch. Erstochen. Oftmals.
Ungemein witzig ist Willem Dafoe in der Rolle eines Detektivs diesmal in der deutschen Fassung, weil er sich als Wiener ausgibt und einen hinreißenden Kunstdialekt hinlegt (muß auf Englisch auch ganz lustig sein, aber nicht so wie diesmal in der Synchronisation). Der gute Mr. Arbuthnot, einst als Sean Connery ein grundsolider Colonel, ist hier (politische Korrektheit) ein farbiger Arzt (Leslie Odom junior) geworden, wieder in Mary Debenham verliebt. Einst war das eine junge Vanessa Redgrave, nun erlebt man die junge, frische Daisy Ridley, die man bisher nur aus der letzten „Star Wars“-Verfilmung kannte. Ein zwielichtiger Sekretär konnte einst nicht besser besetzt werden als mit Anthony Perkins – nun gibt sich der Sonst-Komiker Josh Gad ernsthaft.
Branagh hat ein paar der kostbarsten englischen Schauspieler mitgebracht – Judi Dench überstrahlt in ihrer trockenen Art als alte Prinzessin Natalia Dragomiroff sämtliche (auch berühmte) Vorgängerinnen, und Derek Jacobi liefert als todkranker Kammerdiener des (bald) Toten eine wunderbare Leistung.
Nicht zu vergessen ist die Rolle, die Ingrid Bergman (für eine Charge, wie man offen sagen muß) einst den Nebenrollen-„Oscar“ einbrachte: Die gibt es hier nicht. Sie ist zu einer Latina namens Pilar Estravados geworden, gespielt von der köstlichen Penélope Cruz, die sich allerdings darstellerisch nicht ganz so weit aus dem Fenster hängen darf wie die Vorgängerin in derselben Rolle (mit anderem Akzent…).
Branagh begnügt sich als Regisseur nicht damit, diese Figuren (und Darsteller) lustvoll aufzubereiten, er hat auch Sinn für das Ambiente und das Flair der dreißiger Jahre, dann erst für den Orient, später für den Luxuszug und für die zunehmend verschneiten Umwelt (bald ist man ja von Istanbul kommend im Balkan), und er läßt Kameramann Haris Zambarloukos die köstlichsten Kunststücke vollbringen, etwa dem Geschehen immer wieder auf den Kopf sehen, was durchaus als zynische inszenatorische Schräglage zu begreifen ist. Und er führt die Handlung immer wieder auf Poirot zurück. Logisch. Bei ihm laufen ja alle Fäden zusammen.
Dieser wird übrigens, nachdem er den Fall gelöst hat, schnell abberufen: Er müsse sich sofort nach Ägypten begeben, dort hätte es einen rätselhaften Mord auf dem Nil gegeben. Ja, wir freuen uns auf „Tod auf dem Nil“ und andere weitere Poirot-Filme, wenn das schöne Niveau dieser hier so hoch vergnüglichen Unterhaltung auch sicher gehalten werden kann…
Renate Wagner
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