Von der Lust am Wort und dem Vergnügen des Lesens

Isolde Ohlbaum – „Lesen & Schreiben“

von Frank Becker

Umschlaggestaltung: Cornelia Niere

Die Lust am Wort
 
„Deutsche Literatur, du schnurrigstes Stammbuch der Völker!
Jeder schreibt sich hinein, wie es ihm eben gefällt.“
(Friedrich Hebbel)
 
Isolde Ohlbaum hat für ihr jüngstes Projekt „Lesen & Schreiben“, das im Verlag ars vivendi erschienen ist, nicht nur tief in den Bestand ihrer wunderbaren Schriftsteller-Porträts (oft beim Signieren ihrer Bücher oder am Schreibtisch) und Fotos zum Thema „Lesen“ gegriffen, sie hat dazu auch eine bemerkenswerte Text- und Zitatenauswahl getroffen, die den passionierten Leser in seiner Leidenschaft bestärkt, den Zögernden nach dem Genuß – und es ist ein solcher – dieser einfach hinreißenden Dokumentation vielleicht endgültig gewonnen hat.
Wie schreiben sie und womit - wo lesen sie, die Großen der zeitgenössischen Literatur? Und wo lesen Sie, verehte Leserin, verehrter Leser? Das hier natürlich am PC oder vielleicht unterwegs auf ihrem Smartphone, schließlich sind die Musenblätter ein Online-Medium. Aber, und das ist uns wichtig, wir verstehen uns als Verbindung zur herkömmlichen Kultur des Schreibens und Lesens. Nie wird ein elektronisches Medium ein Buch, nicht einmal ein (bedrucktes) Blatt Papier ersetzen können, den haptischen Reiz, den Duft, das Bild der Schrift, auf eine Seite gedruckt oder in ein wertvolles Papier eingesunken. Nie wird das Scrollen einer E-Book-Seite dem Gefühl beim gespannten Umblättern einer Buchseite den Rang ablaufen können. Der Gedanke, es könne keine Bücher, keine handgeschriebenen Briefe  mehr geben, läßt schaudern.
„Wer liest, erkundet einen neuen inneren Kontinent“, heißt es in der Verlagsmitteilung zum Buch, er/sie hat „einen Garten in der Tasche“, weiß ein chinesisches Sprichwort. Wer liest, tut es im Ohrensessel, auf dem Sofa oder einer Bank im Park, am Küchentisch, an der Haltestelle, in der Eisenbahn oder im Bus, unter einem schattigen Baum oder mit in den Rücken gestopften Kissen gemütlich im Bett. Wo auch immer – wenn das, was man liest, einen gefangen nimmt, wird jeder Platz zum Nabel der Welt. Wie jemand schreibt – und auch das zeigt Isolde Ohlbaum in ihren Bildern – erzählt auch damit einiges: Bleistift, Kugelschreiber oder Füllfeder, eine alte Adler, Reiseschreibmaschine oder Notebook. Der literarischen Kreativität sind alle Mittel recht.
Isolde Ohlbaums „Lesen & Schreiben“ erzählt nicht nur mit den 150 überwiegend schwarz/weißen Bildern ihres aufmerksamen Blicks und mit Worten von Berufenen wie Alberto Manguel, Michael Krüger, Marcel Proust, Herta Müller, Bernd Noack, Peter Handke, Peter Hamm, Gert Heidenreich, Jurek Becker und vielen anderen mehr vom Zauber des Lesens und Schreibens. Es ist ein wunderbares Buch,  diese Liebeserklärung an die Welt der Bücher, es verzaubert selbst, lockt, sich genußvoll darin zu verlieren. Kurt Tucholsky beschreibt es wundervoll:

Manchmal, o glücklicher Augenblick, bist du in ein Buch vertieft, daß du in ihm versinkst - du bist gar nicht mehr da. Herz und Lunge arbeiten, dein Körper verrichtet gleichmäßig seine innere Fabrikarbeit, - du fühlst ihn nicht. Du fühlst ihn nicht. Nichts weißt du von der Welt um dich herum, du hörst nichts, du siehst nichts, du liest. Du bist im Banne eines Buches. (So möchte man gern gelesen werden.)
     Doch plötzlich läßt die stählerne Bindung um eine Spur nach, das Tau, an dem du gehangen hast, senkt sich um eine Winzigkeit, die Kraft des Autors ist vielleicht ermattet, oder er hat seine Intensität verringert, weil er sie sich für eine andere ,Stelle aufsparen wollte, oder er hat seinen schlechten Morgen gehabt… plötzlich läßt es nach. Das ist, wie wenn man aus einem Traum aufsteigt. Rechts und links an den Buchseiten tauchen die Konturen des Zimmers auf, noch liest du weiter, aber nur mit dreiviertel Kraft, du fühlst dumpf, daß da außerhalb des Buches noch etwas anderes ist: die Welt. Noch liest du. Aber schon schiebt das Zimmer seine unsichtbaren Kräfte an das Buch, an dieser Stelle ist das Werk wehrlos, es behauptet sich nicht mehr gegen die Außenwelt, ganz leise wirst du zerstreut, du liest nun nicht mehr mit beiden Augen… da blickst du auf.
     Guten Tag, Zimmer. Das Zimmer grinst, unhörbar. Du schämst dich ein bißchen. Und machst dich, leicht verstört, wieder an die Lektüre.
Aber so schön, wie es vorher gewesen ist, ist es nun nicht mehr - draußen klappert jemand an der Küchentür, der Straßenlärm ist wieder da, und über dir geht jemand auf und ab. Und nun ist es ein ganz gewöhnliches Buch, wie alle andern.
Wer so durchhalten könnte: zweihundert Seiten lang! Aber das kann man wohl nicht."

Eines der schönsten Bücher über das Thema und mit Nachdruck unser Prädikat, den Musenkuß wert.
 
„Bücher sind kein geringer Teil des Glücks.“
Friedrich II.
 
Isolde Ohlbaum – „Lesen & Schreiben“
Eine Liebeserklärung an die Welt der Bücher
© 2017 ars vivendi Verlag, 176 Seiten, gebunden, 30 x 22,5 cm, Personenindex, ca. 150 s/w- und fsrboge Abbildungen, Quellennachweis der Texte  -  ISBN 978-3-86913-870-1
32,00 € (D)

Weitere Informationen: https://arsvivendi.com