Nachtgedanken
Ein Gedicht Li-tai-pes in deutschen Nachdichtungen Vor allem um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich deutsche Lyriker intensiv des Werkes von Li-tai-pe (701-762), dessen Name auch als Li Tai-po, Li Tai-bo, Li Bo oder Li Bai (von Chen Mingxiang) überliefert wird, angenommen. Der legendäre Hofdichter Kaiser Hüan-dsungs und seine Zeit, die der T´ang-Dynastie, stehen bis heute für eine unerreicht hohe Kultur der Künste. Der chinesische Staat machte über Jahrtausende die Beherrschung von Malerei, Kalligraphie, Dichtkunst und Musik zur Bedingung für Männer, die höhere Ämter der Verwaltung, zumal der kaiserlichen anstrebten. Li-tai-pe, ein gewaltiger Trinker vor dem Herrn, gewann und verlor das höchste Ansehen am kaiserlichen Hof von Tschang-an. Seine Dichtkunst ist bis heute unerreicht und in Hunderten von Sehnsuchts-, Kriegs,- Liebes- und Trinkgedichten überliefert. Sie haben Herrscher, Systeme und Revolutionen überlebt und gehören zum ewigen lyrischen Kanon Chinas.
Eines der berühmtesten Gedichte von Li-tai-pe, das laut Chen Mingxiang noch heute in chinesischen Kindergärten auswendig gelernt wird, erzählt vom nächtlichen Heimweh. In Pinyin-Lautschrift und wörtlicher Übersetzung ohne die im Deutschen übliche Ausformung in Satzbau, Metrik etc. sieht es so aus:
tsch'uang tch'ien ming yüeh kuang
Bett vor hell Mond Glanz i shi ti shang shuang gleichwie sein Erde auf Reif tchü t'ou wang ming yüeh heben Haupt aufblicken hell Mond ti t'ou ssi ku hsiang senken Kopf denken alt Glanz In einer freien Prosaübertragung klänge das in etwa so: Vor dem Bett liegt hell des Mondes Glanz,
So als ob Reif auf dem Boden läge. Ich hebe den Blick zum hellen Mond empor.
Ich senke ihn und denke an mein altes Dorf. Und so nehmen die Übertragungen, bzw. Nachdichtungen in deutscher Sprache das Gedicht auf:
Vor meinem Bette
Vor meinem Bette
Ich Mondschein seh', Als wär' der Boden Bedeckt mit Schnee. Ich schau zum Mond auf, Der droben blinkt, Der Heimat denkend Das Haupt mir sinkt. (deutsch von Alfred Forke)
Wanderer erwacht in der Herberge
Ich erwache leicht geblendet, ungewohnt
Eines fremden Lagers. Ist es Reif, der über Nacht den Boden weiß befiel? Hebe das Haupt - blick in den strahlenden Mond,
Neige das Haupt - denk an mein Wanderziel... (deutsch von Klabund)
In der Fremde
Im fremden Lande lag ich. Weißen Glanz
Malte der Mond vor meine Lagerstätte. Ich hob das Haupt, - ich meinte erst, es sei Der Reif der Frühe, was ich schimmern sah, Dann aber wußte ich: der Mond, der Mond... Und neigte das Gesicht zur Erde hin, Und meine Heimat winkte mir von fern. (deutsch von Hans Bethge)
In der Herberge
Vor meiner Bettstatt lag wie Reif so weiß
Des Mondlichts mitternächtiges Gegleiß. Ich hob das Haupt - der Mond schien voll und blank –
Und ließ es wieder sinken, heimwehkrank. (deutsch von Manfred Hausmann)
Gedanken einer ruhigen Nacht
Ein Bett; Mondschein davor wie weißer Sand;
Ob nächstens Rauhreif hier den Zugang fand? Ich heb' das Haupt, schaue den Mond - er glänzt -, Senke das Haupt: o fernes Heimatland! (deutsch von Max Geilinger)
In stiller Nacht
Vor meinem Bett ein lichter Mondenstreif,
Als wär´ der Boden ganz bedeckt von Reif. Ich heb´ mein Haupt, zum hellen Mond gewandt,
Senk´ es und denke an mein Heimatland. (deutsch von Otto Hauser)
Nachtgedanken
Vor meinem Bett das Mondlicht ist so weiß,
Daß ich vermeinte, es sei Reif gefallen. Das Haupt erhoben schau ich auf zum Monde, Das Haupt geneigt denk ich des Heimatdorfs. (deutsch von Günther Eich)
In der Herberge
Vor meinem Ruhbett nichts als Mondenschein,
Wie Rauhreif schimmernd. Morgen wird es schnein. Heb ich das Haupt, seh ich den vollen Mond, Senk ich das Haupt, fällt mir die Heimat ein. (deutsch von Georg Schneider)
In der Herberge
Vor meinem Bett wirft der Mond einen grellen Schein.
Ich wähne, es ist Frühreif, was am Boden glänzt; Hebe das Haupt - und schau in den leuchtenden Mond Senke das Haupt - und denk an mein Heimatland.... (deutsch von Hans Heilmann)
In der Herberge
Vor meinem Lager weißer Schein –
Deckt Frühreif so den Boden zu? Auf seh ich, seh in Mond hinein, Seh niederwärts - - o Heimat du! (deutsch von Hans Böhm)
Nachtgedanken Vor meinem Bett das Licht des Mondes, so weiß, als decke Reif den Boden. Ich hebe das Haupt und betrachte den Mond; ich senke den Blick und gedenke der Heimat. (deutsch von Renate Stolze) Eine stille Nacht
Hell dringt der Mondstrahl zu meinem Bett,
Schimmert so kalt wie der Frost.
Schaue nach oben, erblicke den Mond,
Senke den Kopf voller Heimweh.
(deutsch von Chen Mingxiang und Hildburg Heider)
An den Schluß stelle ich ein Gedicht Rudolf G. Bindings aus dem Zyklus „Buch der Freundin“, das sich in keiner der Ausgaben seiner Gedichte, auch in der maßgeblichen bei Rütten & Loening (1930 und 1941) auf Li Tai-pe beruft, aber unübersehbar das in dieser Betrachtung untersuchte Gedicht aufgreift:
Auf meinem Bette Mondenschein,
so weiß wie Reif und in dem Busch ein Vogellied, von Lieb ein Lied, von Liebe, stundenlang. Ich schaue auf, und schau hinein ins stille Mondesangesicht, und senk das Haupt, und bin allein. Wozu denn Nacht und Sang? Rudolf G. Binding
© der Übertragungen bei den Autoren/Verlagen
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